Am 16.02.2021 äußerte sich der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin im Hinblick auf die landesweiten Inzidenzwerte (RLP Stand 18.02.2021: 47,4) dahingehend, dass „Lockerungen“ verfassungsrechtlich zwingend geboten seien.[1] Deutlichere Worte fand der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki am 11.02.2021. Er bezeichnete die neuerliche Verlängerung aller tief in die Grundrechte eingreifenden Infektionsschutzmaßnahmen als „offenen Rechtsbruch“.[2] Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08.02.2021 in Richtung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof deutlich angemahnt, dass es einer substantiierten Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bezug auf den Einfluss von Schulen auf das Infektionsgeschehen bedarf.[3] Auch der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen hat mit Beschluss vom 29.01.2021 herausgestellt, dass die Zeitspanne der Schulschließung für die Folgenabwägung eine wichtige Rolle spielt[4] und damit ebenfalls eine deutliche Mahnung in Richtung der politischen Entscheidungsträger*innen ausgesprochen.
Anlass zur Hoffnung also, dass der durch das Virus infizierte Rechtsstaat wieder Heilung erfährt?
Seitens renommierter Verfassungsrechtler*innen wurde in der jüngeren Vergangenheit immer deutlicher Kritik formuliert.
Der Staatsrechtslehrer Hinnerk Wißmann kritisierte das Schweigen seiner Kolleg*innen und konstatierte am 06.02.2021[5]:
„Man muss schon allgemein entgegenhalten: Wie will man eine solche Politik vom Ende her denken? Vorsorge ist gut – aber vor allem nie abgeschlossen. Deswegen ist sie auch typischerweise gerade nicht mit flächendeckendem Zwang und Verboten verbunden – denn der Vorsorgestaat würde kein Ende finden, tödlichen Gefahren entgegenzutreten, wenn er damit einmal beginnt. […] Nur in unübersichtlichen, zeitlich und sachlich begrenzten Sondersituationen wurde dem Staat zugebilligt, „auf Verdacht“ zu handeln. So konnte es auch zu Beginn der Corona-Epidemie im letzten Frühjahr vertreten werden. Aber statt die Anforderungen etwa an den Nachweis von Tatsachen und Begründungen für die Wirksamkeit von Maßnahmen zu erhöhen, wird ganz im Gegenteil derzeit erwartet, dass sich das Publikum an eine „Im-Zweifel-für-die-Sicherheit“-Begründung gewöhnen soll. Der Begriff der Vorsorge kehrt die Beweislast um. Man sollte ehrlich sein: Freiheit, die ihre Ungefährlichkeit beweisen muss, ist abgeschafft.“
Die Ignoranz der Gesellschaft gegenüber den sich aufdrängenden verfassungsrechtlichen Fragen beanstandete zu Recht der Staatsrechtslehrer Alexander Thiele am 11.02.2021[6]:
„Das GG kann noch lange die politischen Spielregeln vorgeben, wenn und soweit es vom Volk getragen wird – aber eben auch nur solange es vom Volk getragen wird. Augenblicklich ist leider viel Desinteresse und Gleichgültigkeit gegenüber unserer Verfassung zu beobachten.“
Der Frankfurter Universitätsprofessor Uwe Volkmann brachte es am 15.02.2021 mal wieder auf den Punkt, indem er u. a. feststellte[7]:
„In der Hochphase des jetzigen Lockdowns ist die gerichtliche Kontrolle erneut weitestgehend ausgefallen.“
Volkmann skizziert in diesem Interview auch, dass die allgegenwärtige Präsenz des Staats zu einer „Versorgungsmentalität“ führt und er sieht zudem die Eigenverantwortlichkeit der Menschen schwinden. Diese Sorge teile ich. Vom Staat wird allmählich ein umfassender Schutz gefordert. Risiken sollen weitestgehend ausgeschalten werden. Dieses Verständnis passt indes nicht zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.
Enttäuscht von den rechtsstaatlichen Sicherungsmechanismen zeigte sich unlängst auch der Staats- und Medizinrechtler Josef Lindner in einem vielfach rezipierten Gastbeitrag vom 28.01.2021 bei Zeit online unter der Überschrift: „Justiz auf Linie“. Dort äußerte er u. a.:
„Der Staat darf zur Bekämpfung der Corona-Pandemie inzwischen nahezu alles tun, was die Politikerfantasie fordert. Mit dem „Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat der Bundestag im November die Exekutive zu weitgehenden Grundrechtseingriffen ermächtigt. Von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen über die Einschränkung von Religionsausübung und Versammlungen bis hin zur Schließung von Einrichtungen aller Art kann die Freiheit der Bundesbürger in nie da gewesenem Maße beschnitten werden. Das Gesetz ist weniger eine Einhegung der Regierung durch das Parlament als vielmehr eine Einladung zu Rechtseingriffen.
Eine umso wichtigere Kontrollfunktion kommt daher den Verfassungs- und Verwaltungsgerichten zu. Nur sie können eine Politik, die in der Pandemiebekämpfung hauptsächlich auf Repression setzt, noch in die rechtsstaatlichen Schranken weisen. Doch die Justiz enttäuscht zunehmend.“
Zu Recht kritisierte er im Rahmen der Erklärungssuche für den Ausfall der Justiz darin auch die „alarmistische Rhetorik“ der Politik:
„Eine zweite Erklärung könnte lauten: weil sich die Gerichte von der zunehmend alarmistischen Rhetorik der Politik anstecken lassen. Das zu eruieren wäre ein lohnenswertes Forschungsprojekt insbesondere für die Rechtssoziologen und -psychologen: Wie verändert sich Rechtsprechung in einer Krise bei permanenter Dramatisierungsrhetorik, auch in Medien und sozialen Netzwerken? Erkenntnisse dazu wären auch längerfristig wertvoll, da die Annahme nicht fernliegt, dass die aktuell eingeübten Muster politischer Kommunikation und die Routinen der Freiheitseingriffe nahtlos auch für die Klimapolitik verwendet werden könnten. Schreckensszenarios sind beliebig auswechselbar.“
Wie richtig er damit lag, zeigte sich jüngst. Inzwischen darf als erwiesen gelten, dass die wissenschaftlichen Berater*innen der Regierung nicht so unabhängig waren, wie stets suggeriert wurde und es zudem das erklärte Ziel der Regierung war, im schlechtesten pädagogischen Stil Angst und Schrecken zu verbreiten, wodurch zugleich die Mündigkeit der Bürger*innen negiert wurde. In der NZZ war am 12.02.2021 u. a. zu lesen[8]:
„Das Institut war stets auf einer Linie mit der Bundesregierung. Ein kürzlich publik gewordenes Dokument lässt den Schluss zu, dass das RKI lieferte, was die Politik bestellt hatte. Laut Recherchen der «Welt am Sonntag» suchte das Bundesinnenministerium Ende März 2020 Argumente, um den damaligen Lockdown zu verlängern. Markus Kerber, Staatssekretär im Ministerium, fragte unter anderem beim RKI an, ob man ein möglichst drastisches Bild der drohenden Gefahren zeichnen könne. In seinem Schreiben an mehrere Professoren spricht er von RKI-Chef Wieler als «Freund und Nachbar ». Wenige Tage später übersandten Mitarbeiter des RKI und anderer wissenschaftlicher Institute dem Ministerium das gewünschte Material. Sie entwarfen verheerende Szenarien und warnten vor mehr als einer Million Corona-Toten in Deutschland.“
Focus online berichtete am 12.02.2021 ebenfalls umfassend über die erstmals in der Welt am Sonntag publizierten Erkenntnisse und schilderte eindrucksvoll, wie die Regierung die zweifelhafte „NoCovid“-Strategie ohne nennenswerten Widerstand durchdrückte[9]:
„Eine geradezu spektakuläre Fehlprognose im Papier war die „Worst Case“-Annahme, dass bei einer Nicht-Umsetzung der hammerharten Lockdown-Strategie in Deutschland mehr als eine Million Menschen sterben würden – und zwar bis Ende Mai 2020 (!). Nach Informationen von FOCUS Online war es maßgeblich dieses Szenario, das die Bundes- und Landesregierungen quasi widerspruchslos zustimmen ließ, das öffentliche Leben in Deutschland komplett stillzulegen und die größten Grundrechts-Eingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik in quasi einer einzigen Bundestags-Sitzung zu beschließen. Unausgesprochen wirkt die Drohkulisse dieses Szenarios offensichtlich noch heute. Der Abgeordnete einer Regierungspartei sagte gegenüber FOCUS Online: „Wenn man Maßnahmen infrage stellt, kommt oft die Gegenfrage: ‚Willst du etwa Menschen sterben lassen?‘ Es ist schwer, auf solch einer Basis sachlich zu argumentieren.
Während man im April angesichts der Horror-Bilder aus dem italienischen Bergamo und auch entsprechenden Bildern aus China die Entscheidungen für den totalen Lockdown womöglich noch ohne vorherige Abwägung vertreten konnte, musste schon wenige Monate später klar sein, dass zumindest die Horror-Prognose nicht eingetreten war – und zwar auch ohne Lockdown. Das beste Beispiel dafür ist immer noch Schweden, dessen angeblich gescheiterte Corona-Strategie ohne Lockdown im internationale Vergleich bislang zu Todeszahlen geführt hat, die weder besonders hoch noch besonders niedrig sind.
Nach der Logik des BMI-Papiers hätte aber in Schweden ohne Lockdown – es herrscht in dem skandinavischen Land trotz einiger Eindämmungs-Maßnahmen und Verhaltensregeln nicht einmal überall Maskenpflicht und die Schulen blieben weitgehend geöffnet – ein apokalyptisches Szenario mit hunderttausenden Toten eintreten müssen. Selbst wenn man den „schwedischen Sonderweg“ auch kritisch betrachten kann und dort – ähnlich übrigens wie in Deutschland – fehlender Schutz der Seniorenheime zu vielen Todesfällen führte, hätte der Bundesregierung schnell klar sein müssen: Die Prognosen und Szenarien, mit denen wir operieren, sind nicht zuverlässig.
Das oft ins Feld geführte Präventationsparadoxon wurde durch den Länder-Vergleich zumindest infrage gestellt: Maßnahmen und Verlauf der Pandemie haben eben keinen klar beweisbaren Zusammenhang. Schweden ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass eine Lockdown-Strategie jedenfalls nicht alternativlos ist. Die Mediziner Thomas Voshaar und Dieter Köhler und der Physiker Gerhard Scheuch führen in einem Gastbeitrag für FOCUS Online Beispiele aus den USA auf, die einen fehlenden Kausalzusammenhang zwischen Lockdown-Maßnahmen und Infektions- oder Todeszahlen zeigen. Wobei die meisten Experten, auch Voshaar, Scheuch und Köhler, keineswegs einen weitgehenden „Laissez Faire“-Ansatz wie Schweden empfehlen, sondern eher einen Mittelweg.
[…]Bemerkenswert ist, dass ein solches Strategiepapier offenbar überhaupt nur mit externer Expertise erstellt werden kann. An der Ausarbeitung des BMI-Papiers waren, wie eine Anfrage auf der Internetplattform „FragDenStaat“ ergab, vor allem Wirtschaftswissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt. Darunter auch solche, die sich in Blogs und Artikeln auffallend lobend über China äußern. Etwa der Linguist Otto Kölbl, ein Doktorand an der Universität von Lausanne, der sich in seinem Blog stolz als „Member of German Interior Min. COVID-19 task force“ bezeichnet. Das verwundert dann doch: Ein Doktorant einer Schweizer Universität als Mitglied im Krisenstab eines deutschen Ministeriums, trotz vieler hochdotierter und qualifizierter Ministerialbeamte?Ebenfalls beteiligt an dem Papier war der Asien-Experte Maximilian Mayer von der Uni Bonn, der sich auf Twitter nicht nur für China, sondern auch für die unter Experten umstrittenen, leicht unterschiedlichen Ansätze „NoCovid“ und „ZeroCovid“ begeistert. Beiden Ansätzen ist gemein, dass sich die Gesellschaft – letztlich unabhängig vom Ausmaß der Gefahr eines Virus für die Bevölkerung oder das Gesundheitssystem – einem winzigen Inzidenzwert unterwirft, bei dessen Überschreitung jederzeit wieder der Shutdown droht. Was bei der Bezwingung eines Virus helfen könnte, würde damit letztlich auch – ganz nach chinesischem Vorbild – die totale soziale Kontrolle bedeuten. Das oft angeführte Positiv-Beispiel Neuseeland, das mit einer Art NoCovid-Strategie tatsächlich erfolgreich war, hat einen Schönheitsfehler: Als Insel kann sich das Land perfekt abschotten – und muss das wohl noch für lange Zeit. Für Europa ist das schwer vorstellbar, es sei denn, man wollte die Reisefreiheit und das Schengen-Abkommen dauerhaft außer Kraft setzen.
[…]
Die Bundesregierung dagegen scheint sich für einen „NoCovid“-Weg entschieden zu haben. Und die ersten Ansätze für diese Denkweise scheint es schon vor rund einem Jahr gegeben zu haben. In seinem Blog beschreibt Task Force-Mitglied Otto Kölbl den Einfluss des damaligen Strategiepapiers: „Es hat sehr schnell den bis dahin verfolgten Zugang der Bundesregierung ersetzt, der auf einem Erreichen der Herdenimmunität bei Vermeidung der Überlastung der Spitalkapazität basierte“.
Tatsächlich ist das Ziel, vor allem eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern – ursprünglich als „Flatten the Curve“ propagiert – längst aus dem Fokus des Bundesregierung gerückt. In der Beschlussvorlage des Bund-Länder-Gipfels vom 10. Februar 2021, an dem, wie üblich ohne Einbeziehung des Bundestages, über die Verlängerung des Lockdowns entschieden wurde, heißt es: „Der nächste Öffnungsschritt soll bei einer stabilen deutschlandweiten 7-Tage-Inzidenz von höchstens 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner erfolgen“.
Problematisch erscheint diese Strategie nicht nur deshalb, weil das ausgerufene Ziel gerade in der Erkältungs-Saison für viele Regionen in weiter Ferne liegt. Die Konzentration auf extrem niedrige Inzidenzwerte verlängert auch den Ausnahmezustand – die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ – und entmachtet damit den Bundestag und die Länderparlamente auf unabsehbare Zeit. Und sie könnte das theoretisch jederzeit wieder tun, selbst wenn es sich beim nächsten Mal nicht um ein relativ gefährliches Virus wie Corona handeln würde, sondern „nur“ um eine stärkere Grippewelle.
Rechtsanwalt Niko Härting warnt denn auch vor einer dauerhaften Verschiebung der Prioritäten: „Es gibt kein ‚Super-Grundrecht‘ auf Gesundheit, das alle anderen Grundrechte – etwa Eigentum, Berufsfreiheit, Bewegungs- und Handlungsfreiheit oder die Bildung – außer Kraft setzt“, so Härting zu FOCUS Online. Noch deutlichere Kritik übt der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Stefan Leupertz, der zusammen mit Härting und anderen Anwälten den Mailverkehr analysierte: „Gefährlich wird die Lage, wenn der Staat beginnt, schon die Generierung der Informationen und ihre Interpretation durch dann eben nicht mehr unabhängige Experten zu organisieren. Genau das ist hier geschehen. Das BMI hat ersichtlich und am Ende mit großem Erfolg versucht, ein Informations- und Meinungskartell zu organisieren, das es den politischen Entscheidungsträgern in schwieriger Lage ermöglicht, durch eine Politik der Angst Entscheidungskompetenz auch ohne belastbare sachliche Rechtfertigung zu erlangen“, so Leupertz.
[…]
Laute Kritik an der Regierungs-Strategie äußert bislang vor allem die FDP. Auch innerhalb der Regierungsparteien regt sich Widerstand gegen die Linie aus Berlin – bislang aber nur vereinzelt. Der SPD-Abgeordnete Marcus Held ist einer davon. Held gab dazu dem Polit-Journalisten Boris Reitschuster ein Interview. Held stellte zum Lockdown auch parlamentarische Anfragen an die Bundesregierung, die FOCUS Online vorliegen und deren allgemein gehaltene, knappe Antworten der Regierung ohne konkrete Daten oder Fakten angesichts der Tragweite des Themas irritierend wirken. „Ich finde es sehr erstaunlich, dass nach all den vielen Monaten der gravierenden Auswirkungen durch die Maßnahmen von Seiten der Bundesregierung so gut wie keine wissenschaftliche Abwägung (beispielsweise zur Schließung von Schulen, Kitas oder Friseuren) vorliegt“, so Held im Gespräch mit FOCUS Online.
FOCUS Online hat die Bundesregierung, das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesinnenministerium um eine Stellungnahme gebeten, seit wann und wie die Kollateralschäden des Lockdowns, vor allem die gesundheitlichen Schäden und die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, erfasst und bewertet werden. Die Antworten stehen noch aus.“
Damit wird letztlich bestätigt, was wir in einem Klageverfahren gegen das Robert Koch-Institut bereits am 30.08.2020 vortrugen[10]:
„Es bleibt damit nach hiesiger Ansicht nur die Erklärung, dass den Bürger*innen mit dem Hinweis auf den Anstieg der Fallzahlen losgelöst von der tatsächlichen epidemiologischen Lage Angst gemacht werden soll. Das dürfte auch der Strategie entsprechen, die das Bundesinnenministerium angeraten bekommen hatte. Das dazugehörige Papier wurde Ende März 2020 der Öffentlichkeit bekannt. Dort heißt es u.a.:
Dass es solch‘ ein Papier, das davon zeugt, welch‘ herablassenden Blick die Autoren – die Namen sind diesseits bekannt – auf ihre Mitmenschen haben und dem letztlich der Rat zu entnehmen ist, die Menschenwürde der Bürger*innen mit Füßen zu treten und sie mittels des Weckens von Urängsten zu instrumentalisieren und potenziell zu traumatisieren, als offizielles Dokument auf die Homepage eines Bundesministeriums geschafft hat, ist erschütternd.
Mehr oder weniger direkt räumt Wieler das Ziel, Angst zu machen, auch selbst ein, wenn er im Zusammenhang mit der vom Antragsgegner mitverantworteten Cosmo-Studie der Universität Erfurt („Ziel dieses Projektes ist es, wiederholt einen Einblick zu erhalten, wie die Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt, wie sich die ‚psychologische Lage‘ abzeichnet“) erklärt (bei min 14:55):
„Diese Studie gibt das Stimmungsbild in der Bevölkerung wieder. Das ist ein sehr wichtiger Parameter für uns, um immer die entsprechenden Messages anzupassen. Die neuesten Ergebnisse zeigen, dass das Coronavirus von der Bevölkerung als ein geringeres Risiko angesehen wird, als zuvor und dass auch die Akzeptanz von Maßnahmen (…) weiter gesunken ist.“
Daraus ergibt sich, dass der Antragsgegner offenbar meint, dass die entsprechenden Botschaften angepasst werden müssen. Und da die Angst vor dem Virus nachgelassen hat und auch die Akzeptanz der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen, muss offensichtlich die Angst wieder geschürt werden. Ein unwürdiger und unerträglicher Umgang eines demokratischen Rechtstaats mit seinen als mündig anzusehenden Bürger*innen, der die Antragstellerin ängstigt.
Warum der Antragsgegner dieses ersichtliche Ziel vor dem Hintergrund, dass eine Überlastung der Krankenhäuser nicht droht, verfolgt, ist diesseits nicht nachvollziehbar. Jedenfalls wirft das hier beanstandete Vorgehen auch ein ganz eigenes Licht auf die Frage der Risikobewertung durch den Antragsgegner.
Die Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte haben indes der Bewertung des Antragsgegners – was gerichtsbekannt sein dürfte – bei ihren Entscheidungen im Rahmen der inzwischen in die Tausenden gehenden Eilverfahren
https://www.n-tv.de/panorama/Schon-1000-Eilantraege-gegen-Corona-Regeln-article21766923.html (Beitrag vom 8. Mai 2020)
bisher überragende, nicht erschütterbare Bedeutung beigemessen.
Eine Abkehr vom stoischen Festhalten an der Risikoeinschätzung des Antragsgegners im Rahmen der Eilverfahren ist nicht in Sicht.“
Im Focus-Bericht wird auch die Frage aufgeworfen, welches Ziel die Regierungen verfolgen; dieselbe Frage stellt auch Volkmann im vorgenannten Welt-Beitrag.
Einen heimlichen Strategiewechsel von dem eindeutig legitimen Ziel, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen – jüngst kam im Übrigen heraus, dass zwischen 20 und 30 % derjenigen, die als im Krankenhaus behandelte COVID-19 Fälle geführt wurden, gar nicht deshalb in Behandlung waren, aber dennoch in die Statistiken aufgenommen wurden[11] – hin zur Ausrottung des Virus haben wir bereits mit Schriftsatz vom 04.05.2020 vermutet und in unserem 246-seitigen Antrag auf Schulöffnung in Hessen u. a. ausgeführt[12]:
„Nachdem die Politik lange – zu Unrecht, da kein exponentielles Wachstum zu beobachten war und die Verdopplungszeit – die Stand 3. Mai 2020 nunmehr in Deutschland bei 90,3 Tagen und in Hessen bei 60,6 Tagen liegt
https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-karte-verdopplungszeit-101.html
nur in der exponentiellen Phase einer Epidemie eine Bedeutung zukommt, vgl. ausführlich unten – auf die Verdopplungszeit geschaut hat und Maßnahmen bzw. „Lockerungen“ davon abhängig machen wollte, dass ein gewisser Wert – 10 bis 14 Tage – erreicht wird,
ist dieser Faktor nun in den Hintergrund gerückt und stattdessen geht es nunmehr um die Reproduktionszahl.
Am 16. April 2020 lag die Reproduktionszahl nach Angaben des RKI schätzungsweise bei 0,7. Am 3. Mai 2020 lag sie bei 0.74.
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-16-de.pdf?__blob=publicationFile; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-05-03-de.pdf?__blob=publicationFile
Als politisches Ziel galt es, die Reproduktionszahl unter 1 zu drücken.
Das könnte zugleich auf einen – nicht deutlich kommunizierten – Strategiewechsel hindeuten.
Wenn jede infizierte Person statistisch weniger als eine Person ansteckt, geht die Ausbreitung zurück, sodass es am Ende zu einer Ausrottung des Virus kommt. Eine sog. Herdenimmunisierung wird so verhindert.
Es ist indes nicht sinnvoll das Infektionsgeschehen in Gänze zum Erliegen zu bringen – so aber offenbar das Ziel der Regierenden, da diese eine Reproduktionszahl unter 1 anstreben. Diese Strategie läuft damit im Ergebnis darauf hinaus, dass nur eine Impfung wieder zur Normalität führen kann.
In diesem – sehr bedenklichen Sinne – äußerte sich am 23. April 2020 zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Er hat sich dafür ausgesprochen, nach der Entwicklung eines geeigneten Impfstoffs eine nationale Impfpflicht gegen die Covid-19-Lungenkrankheit einzuführen. Für eine solche Maßnahme wäre er sehr offen, sagte Söder nach einem Treffen mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann in Ulm. Bis zur Entwicklung eines Impfstoffs könne keine Entwarnung gegeben werden.
Tatsächlich hatte sich die Reproduktionszahl nämlich bereits seit dem 21. März 2020 nach den Angaben des RKI bei einen Wert „um 1“ stabilisiert – also auf den Wert, den die Politik nunmehr anstrebt. Seitdem ist die Zahl auch nicht signifikant gesunken.“
Es liegt damit die Vermutung nahe, dass die Regierenden spätestens ab Mai 2020 die Strategie verfolgt haben, so viele Infektionen wie möglich zu verhindern.
In unserem jüngsten Antrag vom 16.02.2021 auf Schulöffnung haben wir die Thematik ebenfalls aufgegriffen und vorgetragen[13]:
„Die nach hiesiger Ansicht – zurückhaltend formuliert – völlig lebensfremde Vorstellung, mehr oder weniger jede Ansteckung verhindern zu können, kann nicht der Ausgangspunkt der Eindämmungspolitik sein. Dabei ist dem Verordnungsgeber immer noch nicht bewusst, was eigentlich sein Ziel ist. Die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitswesens oder die weitgehende Vermeidung jeder Ansteckung? Diese Frage ist für die Rechtfertigung der Maßnahmen von allerhöchster Bedeutung. Volkmann bringt es mit folgenden Worten auf den Punkt:
„Vor den komplexen Abwägungen, die sie hier vornehmen müssten, schrecken sie dann auch einfach zurück“, so Volkmann. Zumal die Politik die Ziele nicht sauber formuliert habe. Es mache einen „erheblichen Unterschied“, ob man Infektionen um jeden Preis verhindern wolle. Oder ob es hauptsächlich darum gehe, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erhalten. „Im ersten Fall könnte ein Gericht auch bei niedrigeren Inzidenzen beliebige Ausgangsbeschränkungen durchgehen lassen, im zweiten Fall an sich nicht.“
Nachdem sich die „Ziele“ seit Beginn der Pandemie beständig verändern und auf diese Weise nie erreicht werden, ist es allerhöchste Zeit, das Ziel und die damit verbundenen offenen Rechtsfragen zu klären.
Zunächst war es die Verdopplungszahl – diese sollte 10 oder 14 Tage erreichen -, dann kam der R-Wert – der sollte unter 1 liegen -, es schloss sich die 7-Tage-Inzidenz, die ihreseits aufgrund fehlender repräsentativen Testungen, unterschiedlicher Testungsstrategien und der unterschiedlichen Anzahl der Tests völlig nichtssagend ist, zunächst von 50 an. Inzwischen, nachdem die 50 vielerorts unterschritten ist, bzw. bald unterschritten sein wird, wird die 35 als Ziel ausgegeben.
Was kommt als nächstes? Die Mutationen müssen vernichtet werden? Es darf keine Neuinfektionen geben? Die Historie zeigt bislang: Sobald ein Ziel erreicht ist, wird einfach ein neues gesetzt.“
Dass es schon lange nicht mehr einzig oder zumindest vorrangig um die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems geht, meinen wir auch für das Land Rheinland-Pfalz zu erkennen. In unserem Verfahren für mehrere Fitnessstudios trugen wir daher mit Schriftsatz vom 12.02.2021 vor[14]:
„Die zur Verfügung gestellten Dokumente offenbaren im Übrigen auch das Ziel der Maßnahmen. Dieses ist schon lange nicht mehr die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, sondern wird wie folgt beschrieben (pdf S. 12; Hervorhebungen durch die Unterzeichnerin):
„Eine Ansteckung soll in jedem Fall verhindert werden. Dies bezweckt auch die Schließung bestimmter Einrichtungen […]“
Das erinnert doch sehr an die in den vergangenen Wochen aufgekommene, umstrittene und nach hiesiger Sicht völlig unpraktikablen
„Zerocovid“-Strategie. Es ist interessant zu sehen, dass Rheinland-Pfalz dieser offenbar schon seit spätestens dem 02.11.2020 zu folgen scheint.“
Bevor ich Sie nun aber kurz im Hinblick auf einige Verfahren auf den neusten Stand bringen möchte, erlaube ich mir Ihren Blick auf eine sehr differenzierte Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15.02.2021 zu lenken. Ich würde mir wünschen, häufiger derartig tiefgehende Ausführungen, die zeigen, dass sich der Senat ernsthaft mit dem Vorbringen des Antragstellers auseinandergesetzt hat, zu lesen. Der Senat lehnt den Antrag, der auf die Öffnung von Frisörbetrieben gerichtet war, zwar ab, allerdings mit einer Begründung, die eines Rechtsstaats würdig ist. Dort heißt es u.a.[15]:
„Es bedarf zudem näherer Prüfung, die nur in einem Hauptsacheverfahren geleistet werden kann, ob die seit Pandemiebeginn angenommene 7-Tage-Inzidenz von 50 als Obergrenze für eine effektive Kontaktnachverfolgung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst als sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Hierin bestehen in verschiedener Richtung Zweifel. Zum einen ist fraglich, ob bis zu einer 7-Tage-Inzidenz von 50 die Kontaktnachverfolgung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst wirklich umfassend gewährleistet ist. Schon angesichts bestehender rechtlicher Grenzen für die Tätigkeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes dürfte eine lückenlose Kontaktnachverfolgung kaum möglich sein. Auch die Angaben des RKI zur Erforschung von Infektionsumfeldern (RKI, Infektionsumfeld von COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland, in: Epidemiologisches Bulletin v. 17.9.2020, S. 3 ff., veröffentlicht unter: https://www.rki.de/
DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/38_20.pdf?__blob=publicationFile) nähren Zweifel. Denn hiernach war der öffentliche Gesundheitsdienst in der Zeit bis zum 11. August 2020 bei 7-Tage-Inzidenzen von deutlich unter 50 (vgl. RKI, Lagebericht v. 11.8.2020, dort S. 6; veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Archiv_August.html) in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht in der Lage, eine Infektion bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und ein konkretes Infektionsumfeld festzustellen. Zum anderen ist die personelle und sachliche (etwa die Einführung des Systems SORMAS) Verstärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes während der Pandemie, die fraglos auch der Antragsgegner betrieben hat, zu berücksichtigen und zu klären, wie sich diese auf die Fähigkeit des öffentlichen Gesundheitsdiensts zur Kontaktnachverfolgung, die bereits ohne diese Verstärkung bei einer 7-Tage-Inzidenz von bis zu 50 angenommen wurde, ausgewirkt hat (vgl. etwa: https://www.deutschlandfunk.de/grossstaedte-kontaktnachverfolgung-auch-bei-inzidenz-ueber.1939.de.html?drn:news_id=1224736). So hat der Antragsgegner in der Vorbemerkung zu seinem Stufenplan 2.0 vom 2. Februar 2021 ausgeführt (veröffentlicht unter www.niedersachsen.de) […]Ohne dass es im vorliegenden Fall darauf ankommt, weist der Senat im Hinblick auf künftige Verfahren deshalb bereits jetzt darauf hin, dass die Anknüpfung weiterer Öffnungsschritte an eine 7-Tage-Inzidenz von höchstens 35, wie es der auf der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder gefasste, aber rechtlich nicht bindende Beschluss vom 10. Februar 2021 unter Ziffer 6. vorsieht, diesen legitimen Pfad verließe. Der für die Aufhebung von Infektionsschutzmaßnahmen zu erreichende Inzidenzwert ist keine politische Zahl, die im Wege eines Kompromisses bei Verhandlungen zwischen der Exekutive des Bundes und der Länder vereinbart werden kann. Er hat vielmehr maßgeblich an die tatsächliche Fähigkeit der Gesundheitsverwaltung zur Nachverfolgung anzuknüpfen. Nur eine Anknüpfung an tatsächliche Gegebenheiten ist geeignet, die durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hervorgerufenen erheblichen Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen. […]
Das Gesetz sieht mithin drei unterschiedliche Inzidenzbereiche (über 50, über 35, unter 35) vor, die zu abgestuften Einschränkungen ermächtigen. Dies schließt es aus, die Aufhebung der derzeit angeordneten umfassenden Schutzmaßnahmen mit einem Inzidenzwert von unter 35 zu verbinden. Unterhalb eines Wertes von 35 kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. Damit sind ersichtlich Einschränkungen gemeint, die deutlich unter der Eingriffstiefe flächendeckender Betriebsverbote und -beschränkungen liegen. Diese sind auch nicht durch § 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG gerechtfertigt, solange die Nachverfolgbarkeit gewährleitet und damit eine unkontrollierte Verbreitung von COVID-19 nicht zu befürchten ist. […]
Es ist bei summarischer Prüfung nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass mildere, in ihrer Wirkung aber ähnlich effektive Mittel im Hinblick auf das tätigkeitsbezogene Infektionsgeschehen zur Verfügung stehen. […]
Zweifelhaft erscheint aber, ob der Antragsgegner die nun bereits mehrere Monate andauernde Entwicklung des Infektionsgeschehens schon im Hinblick auf die seit einigen Wochen sinkenden Inzidenzwerte durch in erster Linie bloße Verlängerungen der Geltungsdauer und teilweise Ausdehnung der Betriebsverbote und -beschränkungen begleiten darf. Auch wenn insoweit eine abschließende Sachaufklärung im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes von Amts wegen nicht geboten ist und daher eine abschließende Bewertung dieser Frage derzeit nicht erfolgen kann, erscheint es bei summarischer Prüfung nicht schlechthin abwegig, dass dem Verordnungsgeber mildere, zur Erreichung aller verfolgten legitimen Ziele aber durchaus ähnlich effektive Mittel im Hinblick auf das gesamte gebietsbezogene Infektionsgeschehen zur Verfügung stehen könnten (vgl. Senatsbeschl. v. 20.1.2021 – 13 MN 10/21 -, juris Rn. 34 ff.). […]
Es ist mehr als unbefriedigend, dass das RKI nach inzwischen einem Jahr Dauer der Pandemie lediglich einen Bruchteil der Infektionen bestimmten Lebensbereichen zuordnen kann (vgl. hingegen etwa die Modellrechnung der TU Berlin, FAZ v. 12.2.2021, S. 6). Aus diesem Grunde sind gezielte Schutzmaßnahmen weiterhin kaum möglich, und es müssen breitflächige Schließungen und Kontaktverbote angeordnet werden, die erhebliche Grundrechtseingriffe und zunehmende Akzeptanzprobleme zur Folge haben. Es ist daher erforderlich, dass die Mitarbeiter der Gesundheitsverwaltung den Infizierten gezielte Fragen stellen, die mögliche Ursachen der Infektion aufdecken können und generelle Rückschlüsse auf risikoreiche Kontaktsituationen zulassen. Auch die Beauftragung wissenschaftlicher Studien zur Erforschung des alltäglichen Infektionsgeschehens stellt eine denkbare Möglichkeit zur Aufhellung der nach wie vor bestehenden Erkenntnislücke dar. Die Erforschung eines Sachverhalts erst nach Ausbruch eines großen Infektionsgeschehens (z.B. bei Schlachthöfen) hat sich in diesem Zusammenhang nicht als ausreichend erwiesen.
Darüber hinaus ist der Schutz vulnerabler Gruppen immer noch nicht hinreichend sichergestellt. Trotz aller Anstrengungen sind die Sterberaten alter Menschen in Alten- und Pflegeheimen weiterhin sehr hoch. Die bereits lange angekündigte Versorgung der Bevölkerung mit zugelassenen Selbsttests ist bislang immer noch nicht sichergestellt.
(4) Die danach bestehenden Zweifel an der Erforderlichkeit setzen sich bei der Beurteilung der Angemessenheit der Betriebsverbote und -beschränkungen – und damit auch der in diesem Verfahren streitgegenständlichen Schließung von Friseurbetrieben für den Publikumsverkehr und Besuche nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 der Niedersächsischen Corona-Verordnung – fort.“
Die Entscheidung kann als deutliche Warnung an die politischen Entscheidungsträger*innen verstanden werden.
Die defizitäre Lage im Hinblick auf den Wissenstand bezüglich des Infektionsgeschehens hatten wir auch bereits mehrfach beanstandet, ohne dass die zuständigen Gerichte hierauf eingegangen waren. Zum Beispiel wiesen wir in einem Eilantrag auf Schulöffnung in Nordrhein-Westfalen mit Schriftsatz vom 13.01.2021 auf das selbstverschuldete fehlende Wissen hin[16]:
„Das Handeln der Regierenden ist – selbstverschuldet! – derart weit von evidenzbasiertem Handeln entfernt, dass es nur noch als unerträglich und beschämend zu bezeichnen ist.
Über diesen Umstand dürfen die Gerichte nicht mehr hinwegsehen. Die Einschätzungsprärogative endet jedenfalls dort, wo sich der Verordnungsgeber nur noch im Bereich der Vermutungen und Behauptungen bewegt. Außerdem ist eine Kosten-Nutzen-Analyse vorzunehmen. Noch nicht einmal diese hat – soweit ersichtlich – ein Gericht jemals im Zusammenhang mit allgemeinen, unspezifischen Maßnahmen eingefordert. Der Umstand, dass bei der Folgenabwägung das Leben und die Gesundheit einzustellen ist, bedeutet weder, dass es auf der anderen Seite nicht ebenso um Leben und Gesundheit gehen kann (Zunahme psychischer Probleme bis hin zum Suizid, dazu später ausführlich), noch, dass das (coronafreie) Leben und die (coronafreie) Gesundheit automatisch die Grundrechte, in die eingegriffen wird, überwiegt.“
Nun der versprochene Verfahrensüberblick:
Bayern:
1. Wir haben nunmehr mit Schriftsatz vom 01.02.2021 beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Verzögerungsrüge erhoben. Dort heißt es u. a.[17]:
„Die bisherige Dauer des Verfahrens ist unangemessen lang. In der vorliegenden Sache wurden die vorgenannten Normenkontrollklagen bereits am 08.04.2020, 20.04.2020 und 03.05.2020 erhoben, ohne dass durch den Senat – trotz diesseitiger mehrfacher Bitten und Anträge (12.08.2020; 15.09.2020 und zuletzt am 29.11.2020) – bislang eine mündliche Verhandlung anberaumt wurde. Mit Schriftsatz vom 28.09.2020 wurde lediglich mitgeteilt, dass ein Entscheidungstermin oder ein Termin zur mündlichen Verhandlung derzeit nicht in Aussicht gestellt werden könne. […]
Diesseits drängt sich der Eindruck auf, dass der Senat – bei allem Verständnis für eine etwaige bestehende Belastung, die allerdings ebenfalls auf Seiten der Anwaltschaft zu verzeichnen ist – den Versuch unternimmt, die Angelegenheit „auszusitzen“.
In einer derart schwerwiegenden Rechtsstaatskrise ist es offensichtlich keine Option, darauf zu hoffen, niemals über die Rechtmäßigkeit der schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe, die dieses Land je gesehen hat, entscheiden zu müssen.
Diese Option existiert auch dann nicht, falls die Coronakrise nach Ansicht der Regierenden irgendwann einmal ein Ende finden sollte – wonach es im Übrigen aktuell auch in keiner Weise aussieht. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.
[…]
Hoher Senat, es ist Ihre Pflicht, die hier aufgeworfenen Rechtsfragen umfassend und vor allem zügig aufzuklären. Das schulden Sie nicht nur dem Antragsteller, sondern allen Bürger:innen des Freistaats.
Diese Krise hat in erschütternde Weise gezeigt, wie fragil unser Rechtsstaat im Grunde ist. Es ist zu konstatieren, dass er die erste richtige Bewährungsprobe nicht bestanden hat.
Es drängt sich auch immer mehr die Frage auf, wann die Schmerzgrenze unserer Gesellschaft erreicht ist.
Es wäre zu vermuten gewesen, dass dies deutlich früher der Fall ist. Etwa bei Kindern, die frierend mit Winterjacke, Decken und Maske im Klassenzimmer sitzen oder bei Besuchsverboten bei Sterbenden.
„Kollateralschäden“, hoher Senat, die Sie mit Ihrer Rechtsprechung, die sich bislang lediglich in Eilverfahren erschöpft, vollumfänglich mitzuverantworten habe.
Dies berücksichtigend besteht Anlass zur Sorge, dass es keine Schmerzgrenze zu geben scheint.
Die Werte unserer Gesellschaft, die Grundlage unseres Zusammenlebens wurden in den vergangenen Monaten derart verschoben, dass die von Professor Uwe Volkmann letzten März noch als dystopische Aussicht anmutenden Ausführungen zum seuchenpolitischen Imperativ (https://verfassungsblog.de/der-ausnahmezustand/) Realität geworden sind. […]
Kinder und Jugendliche, die aktuell schutzloser denn je Gewalt ausgesetzt sind. Denen durch Schulschließungen Bildungs- und damit Lebenschancen genommen werden. Die allgemeine Zunahme der psychischen Erkrankungen. Menschen, die schwerwiegender erkranken oder versterben, weil sie nicht zur Vorsorge gehen oder zu spät einen Notruf absetzen. Menschen, die ihre wirtschaftliche Existenz verlieren oder verloren haben. Menschen, die vereinsamen.
Sie alle werden kaum gesehen, bzw. kaum sichtbar gemacht. Und wenn sie sich dann doch trauen, oder so verzweifelt sind, dass sie denken, sie haben ohnehin nichts mehr zu verlieren und auf ihr Leiden aufmerksam machen, dann erdreistet sich Ministerpräsident Dr. Söder zu folgender Aussage:
„Was Söder bisweilen überrascht: Wie viele Gruppen sich als Opfer der Corona-Pandemie stilisieren. Er stellt klar: Die wirklichen Opfer seien die ganzen Corona-Toten. „Diese Leute und deren Familien haben keine Hoffnung mehr.“ Söder: „Natürlich machen diese Maßnahmen niemandem Spaß, aber es hilft einfach nichts.‘‘
Die Aussage, die Söder am 08.01.2021 tätigte, ist ersichtlich nur schwer an Arroganz und Ignoranz zu überbieten. Dass sie vom amtierenden hiesigen Ministerpräsidenten stammt, ist erschütternd und zeigt einmal mehr, dass es die Politik in diesem Land nicht richten wird.“
2. Vor dem Verwaltungsgericht Augsburg hatten wir mit unserem Eilantrag[18] gegen die per Allgemeinverordnung angeordnete Testpflicht von Grenzpendler*innen am 03.02.2021 Erfolg[19]. Hiergegen legte der Antragsgegner Beschwerde ein; mit Schriftsatz vom 16.02.2021[20] erwiderten wir; der Bayerische Verwaltungsgerichtshof muss nun über die Beschwerde entscheiden.
Wir haben – dem VG Augsburg zustimmend – vorgetragen, dass es keine ausreichende Rechtsgrundlage gibt, da die Behörden von der bundesweit geltenden Coronavirus-Einreiseverordnung nur in „begründeten Einzelfällen“ abweichen dürfen. Tiefergehend haben wir uns auch mit der Ungeeignetheit von anlasslosen Massentests im Hinblick auf die Eindämmung des Infektionsgeschehens (Ausnahmen sind Pflege- und Altenheime, hier überwiegt der Nutzen den potenziellen Schaden evident) beschäftigt. Wir haben hierbei dargelegt, dass asymptomatische Menschen für die Virusverbreitung kaum eine Rolle spielen und dass die Datenlage in Bezug auf Präsymptomatische kaum belastbar ist, jedenfalls diese Menschen nur für einen sehr kurzen Zeitraum für das Infektionsgeschehen relevant sind. Um diese zu entdecken, sind die deutlich unsicheren Antigenschnelltests ungeeignet und die PCR-Tests wiederum dauern zu lange. Da die Prävalenz niedrig ist, stellt sich in dem Zusammenhang auch das Problem der sog. falsch-positiven Tests. Aus diesem Grund – schlechtes Kosten/Nutzenverhältnis – wären daher auch anlasslose Schnelltests in Schulen bedenklich.
Im Übrigen erblicken wir in der Testpflicht für Grenzpendler*innen und Grenzgänger*innen einen Verstoß gegen die unionsrechtlich garantierte Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen, da das Reisen und Arbeiten innerhalb Deutschlands einfacher gestaltet wird als das Reisen und Arbeiten zwischen Deutschland und Österreich.
Hessen
Wie bereits oben angerissen, haben wir mit Schriftsatz vom 16.02.2021 gegen den angeordneten Distanzunterricht ab Klasse 7 geklagt. In dem 116-seitigen Schriftsatz heißt es abschließend auszugsweise:
„Durch die Schließung der Schulen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch kein einziger Pflegeheim-Hotspot verhindert.
So auch Stöhr am 12.02.2021 (Hervorhebungen durch die Unterzeichnerin):
„Es gibt eine unterschiedliche Risikoabschätzung für die einzelnen Zielgruppen. Warum sollen wir die Kinder und Jugendlichen wegschließen, obwohl sie kaum betroffen sind? Es stimmt nicht, dass das Sterben in den Altenheimen in den Kitas beginnt. Alte Menschen müssen endlich durchgehend stärker geschützt werden. Schulschließungen sind die Ultima Ratio und sollten wirklich nur bei der höchsten Risikostufe erfolgen.“
In den Pflegeheimen, hoher Senat, sterben die Menschen in unwürdigen Umständen. Isoliert und einsam. Dort hat der Verordnungsgeber – wobei er sich hierbei bedauerlicherweise in schlechter Gesellschaft mit allen anderen Landesregierungen befindet – auf ganzer Linie versagt. […]
Fast jedes dritte Kind ist inzwischen psychisch auffällig. Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind psychisch belastet.
https://www.tagesschau.de/inland/studie-psyche-kinder-gesundheit-101.html
„Experten sagen, die Zahl psychisch und physisch misshandelter Kinder steige derzeit dramatisch. Bei vielen Familien lägen die Nerven blank, Kitas und Schulen geschlossen.“
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-kinderschutz-misshandlung-100.html
Gleichwohl werden Politiker:innen nicht müde, von der Generation der Antragstellerin Solidarität einzufordern. Evidenzbasiert ist die Schulschließung, wie gezeigt, ja gerade nicht.
„Wenn man Schulen also schließt, macht man das mit einem fremdnützigen Sinn, nicht weil man Kinder schützen möchte“, sagt Reinhard Berner, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin von der Universität Dresden.“
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/schulen-studien-101.html
Erstaunlicherweise wird der Begriff Solidarität seit der Corona-Krise vor allem dazu genutzt, Menschen einzuschränken. Wer ist aber solidarisch mit Restaurantbetreiber*innen, Fitnessstudiobetreiber*innen etc., die effektive Hygienekonzepte entwickelt und mitunter Tausende von Euros in Belüftungssysteme gesteckt haben? Sind die angekündigten Novemberhilfen vollständig geflossen? Es kann und muss Solidarität in einer Gesellschaft erwartet werden. Aber keine blinde, unausgewogene.
Warum fordern wir von Kindern und Jugendlichen, die am wenigsten von der Gefahr des Virus betroffen sind, Solidarität ein? Warum nicht von der Industrie, Fluggesellschaften, Verwaltung; warum wird lediglich daran appelliert, ins Home-Office zu gehen? Für viele Bürotätige und in der Industrie Tätige geht im Wesentlichen das Leben „normal“ weiter. Dass ausgerechnet Kinder und Jugendliche Sonderopfer erbringen sollen, während weite andere Teile der Bevölkerung unbehelligt bleiben, verstößt gegen das Willkürverbot. Solidarität könnte auch von der Gruppe eingefordert werden, die am stärksten betroffen ist.
Es ist einfach, abstrakt Solidarität einzufordern, aber es ist schwierig dem Einzelnen, der akut von der Beschränkung betroffen ist, gegenüber zu begründen, warum er oder sie als Akt der Solidarität nicht in die Schule gehen darf.
Hoher Senat, falls Sie diesem Antrag nicht folgen, bitte ich Sie, meiner jungen Mandantin und allen betroffenen Schüler:innen zu erklären, warum sie nicht zur Schule gehen dürfen. Warum Sie ihnen Lebenschancen nehmen. Warum Sie glauben, dass es gerechtfertigt ist, tausenden von Schüler:innen der Gefahr von Gewalt und psychischer Probleme auszusetzen. Um vermeintlich Menschenleben zu retten, die auf diese Weise nicht gerettet werden können.
Erklären Sie ihr in dem Fall bitte auch, warum es in Ordnung sein soll, die Schule zu schließen und gleichzeitig weite Teile des Arbeitslebens „normal“ weitergehen und sich der Verordnungsgeber nicht etwa veranlasst sah, Fertigungs- und Handwerksbetriebe oder Büros zu schließen bzw. Home-Office anzuordnen – schließlich stecken sich, wie oben dargelegt, viele Menschen bei der Arbeit an.
Dies alles zeigt, dass der Verordnungsgeber im Wesentlichen von dem Bedürfnis getrieben war, irgendetwas zu machen und Entschlossenheit zu zeigen. Er lässt dabei jegliche Kreativität vermissen und ihm fällt lediglich ein, alles zu schließen, was seines Erachtens geht. Auf oder Zu. Mehr kennt er nicht. Kreative Schutzkonzepte, wie sie etwa in Tübingen erfolgreich durchgeführt werden, sucht man seit Monaten vergebens.
Es bleibt zu hoffen, dass der hiesige Senat dazu beitragen wird, zu verhindern, dass der Verordnungsgeber glaubt, auf einer derartigen Entscheidungs- und Tatsachengrundlage einen 3. oder 4. Lockdown durchführen zu können – bzw. den seit Mitte Dezember anhaltenden Dauerlockdown weiter beliebig verlängern zu können.
Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Es ist nicht mehr hinnehmbar, dass die Exekutive unter Außerachtlassung jeglicher wissenschaftlicher Evidenz und rechtsstaatlicher Grundsätze, schaltet und waltet, wie es ihr beliebt.“
Rheinland-Pfalz
1. In dem Klageverfahren mehrerer Fitnessstudio-Betreiber*innen haben wir leider den Eindruck gewonnen, dass das Land versucht, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Auszugsweise heißt es in unserem Schriftsatz vom 12.02.2021:
„Dass sich der Beklagte erdreistet hat, nach der bereits von der Kammer gewährten, dreiwöchigen Erwiderungsfrist eine Fristverlängerung von zwei Monaten zu beantragen, – dem Antrag wurde großzügigerweise von der Kammer stattgegeben – um dann lediglich zwei Seiten mit – zurückhaltend formuliert – überschaubaren Inhalt vorzulegen, legt den Verdacht nahe, dass der Beklagte durch sinnlose Fristverlängerungsanträge versucht, das Verfahren zu verzögern.
Es ist beschämend, dass sich der Beklagte, als derjenige, der derart massiv in die Grundrechte seiner Bürger*innen eingreift, dafür nicht zu schade zu sein scheint.
Mit diesem Vorgehen zeigt der Beklagte, dass er kein Interesse an einer raschen gerichtlichen Klärung im Hinblick auf die Frage, ob die massivsten Grundrechtseingriffe, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland zu erdulden waren, rechtmäßig gewesen sind, hat.
Vor diesem Hintergrund wird – um weitere Verzögerungen zu vermeiden – beantragt,
einen Termin zur mündlichen Hauptverhandlung zu bestimmen, der spätestens im April 2021 stattfindet. […]
Die zur Verfügung gestellten Dokumente können bestenfalls als Zusammenfassung der Erwägungsgründe angesehen werden; es fehlen indes jegliche wissenschaftliche oder sonstige Nachweise für die darin aufgestellten Behauptungen.
So heißt es dort beispielsweise, dass sich gegen eine kontrollierte Herdenimmunität „die meisten naturwissenschaftlichen Sachverständigen in Deutschland ausgesprochen hätten“ (pdf S. 10 – die Seiten sind nicht einmal foliiert!). Weiter wird behauptet: „Manche sprachen auch von einem hochriskanten Experiment, zu recht, wie sich aus heutiger Sicht sagen lässt.“ (pdf S. 10).
Von welchen Sachverständigen ist die Rede? Die Naturwissenschaften sind breit gefächert – welche Naturwissenschaften waren gemeint? Wie viele Sachverständige sind gemeint („die meisten“)? Zahlreiche Fragen dieser Art drängen sich nach der Lektüre dieser Unterlagen gerade zu auf. […]
Ferner wird behauptet, dass bei 75% der Fälle die Kontaktnachverfolgung nicht mehr möglich sei. Das ist in der Pauschalität schlicht falsch, worauf die Unterzeichnerin auch bereits in ihrem Schriftsatz vom 12. November 2012, dort S. 50, hingewiesen hatte. Es stellt sich insoweit auch die Frage, ob der Antragsgegner in den vergangenen 15 Wochen nicht einmal die Zeit (oder Lust) gefunden hat, die hiesigen Schriftsätze inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen.
Dr. Dieter Hoffmann, der Leiter des Gesundheitsamts in Mainz-Bingen, hatte sich am 05.11.2020 kritisch zu Strategie der Eindämmung geäußert; für ihn sei der Wechsel zur nächsten Phase, der „Protection“, überfällig und er teilte auch mit, dass bei „einem Drittel“ der Infektionen nicht mehr festgestellt werden könne, wo sich die Leute angesteckt haben – mithin ist es also zumindest in Mainz-Bingen – nicht so gewesen, dass bei 75% der als Infizierten betrachteten, der Ansteckungsort nicht mehr nachvollzogen werden konnte.
2. Bei mir häufen sich traurigerweise die Anfragen behinderter Menschen. Sie werden diskriminiert, in dem ihnen der Zutritt zu Einkaufsläden ohne Maske – trotz begründeten medizinischen Attests – verwehrt wird. Als ich vergangenen Frühsommer die ersten solcher Anfragen bekam, war ich der Ansicht, dieses Problem haben die Verordnungsgeber schlicht nicht bedacht. Inzwischen fürchte ich, dass es ihnen nicht wert ist, das Problem zu lösen. Dass sich die Unternehmen zu solchen Schritten gezwungen sehen, ist meines Erachtens – ob der tiefen Spaltung, die sich beispielhaft an der Maske immer wieder zeigt – darin begründet, dass sie es leid sind, sich ständig mit den Beschwerden anderer Kund*innen, die sich daran stören, dass Menschen ohne Maske einkaufen, auseinanderzusetzen.
Drei solcher Verfahren führe ich inzwischen, zwei[21] sind bereits beim Gericht anhängig, ein weiteres (ein Lebensmittelladen, der bis vor Kurzem ausdrücklich und schriftlich die Maskenbefreiung aufgrund der Behinderung meines Mandanten anerkannte!) wird demnächst anhängig gemacht. Meine Mandant*innen möchten mit diesen Verfahren auch für jene kämpfen, die nicht die zeitlichen, nervlichen und finanziellen Ressourcen für solche Verfahren aufbringen können. Auszugsweise heißt es in einer Klage vom 10.12.2020[22]:
„Vergleichbare Regelungen finden und fanden sich in allen Bundesländern.
Der Umstand, dass dem Kläger als Alternative zu einer Mund-Nasen-Bedeckung das Tragen eines sog. Gesichtsvisier angeboten wurde – bzw. zur Bedingung für den Eintritt gemacht wurde – ändert an der vorliegenden rechtlichen Würdigung freilich nichts.
Unabhängig davon, dass auch ein Gesichtsvisier vom ärztlichen Attest eingeschlossen ist, ist es jedenfalls so, dass ein Gesichtsvisier letztlich kein Nutzen beim Infektionsschutz zukommt und daher selbstverständlich auch nicht dem Kläger aufgenötigt werden darf.
Das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße (Rheinland-Pfalz) hatte am 10.09.2020 in einem Beschluss festgestellt, dass ein Gesichtsvisier keine Alternative zur Mund-Nasen-Bedeckung darstellt (Hervorhebungen durch die Unterzeichnerin):
„Entgegen seiner Auffassung ist die Verwendung eines Gesichtsvisiers nicht mit einer Mund-Nasen-Bedeckung im Sinne des § 1 Abs. 3 der 10. CoBeLVO gleichzusetzen.
[…]
Aus dieser Funktion folgt, dass die Mund-Nasen-Bedeckung möglichst eng anliegen und gut sitzen muss, um das Vorbeiströmen von Luft an den Rändern der Maske zu verringern. Die Maske muss deshalb eine Beschaffenheit aufweisen, die dies weitgehend ermöglicht. […] Ebenso wenig kann ein Gesichtsvisier („Face Shield“) – zumindest nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand – als Mund-Nasen-Bedeckung bzw. als Alternative zur Mund-Nasen-Bedeckung angesehen werden.“
VG Neustadt an der Weinstraße, Beschluss vom 10.09.2020 – 5 L 757/20.NW.
Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ist kein Selbstzweck. Sollte einer (nicht zertifizierten) Mund-Nasen-Bedeckung überhaupt ein epidemiologischer Nutzen in Alltagssituationen zuzusprechen sein, dann muss eine solche jedenfalls eng an Mund und Nase anliegen. Daher verbietet der hessische Verordnungsgeber beispielsweise Gesichtsvisiere als Alternativen ausdrücklich.
Auf der Seite der hessischen Landesregierung bzw. des hessischen Sozialministeriums ist zu lesen:
https://www.hessen.de/fuer-buerger/corona-hessen/mund-nasen-bedeckung (zuletzt abgerufen am 10.12.2020) […]
Der Verordnungsgeber selbst hält es trotz der seinerseits immer noch als „hoch“ eingestuften Gefährdungslage für die Gesundheit der Bevölkerung
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html (zuletzt abgerufen am 10.12.2020)
durch die aus seiner Sicht noch andauernden SARS-CoV-2- Pandemie für vertretbar, Ausnahmetatbestände in Bezug auf die „Maskentragpflicht“ zu schaffen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb es gerechtfertigt sein könnte, sich über die Wertung des Verordnungsgebers, der offensichtlich intendiert, auch Menschen mit Beeinträchtigungen weiterhin die Teilnahme am sozialen Leben zu ermöglichen, hinwegzusetzen und eine strengere Regelung zu treffen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass es das erklärte Ziel der Verordnungsgeber ist, so vielen Menschen wie möglich die Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen.
Deutlich geworden ist das verordnungsgeberische Ziel auch bereits in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 2020. Dort heißt es u.a.:
„Vielmehr darf der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann.“
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Mai 2020 – 1 BvR 1021/20.
Mithin schoss die Beklagte durch die überobligatorische Umsetzung der Verordnung ersichtlich über das gesetzgeberische Ziel hinaus bzw. verkehrte das Ziel in sein Gegenteil. Der Verordnungsgeber hatte offenkundig nicht die Diskriminierung derjenigen beabsichtigt, die er selbst von der „Maskenpflicht“ befreit.“
Die Privatautonomie darf nur in engen Grenzen eingeschränkt werden; allerdings wirkt dieser Satz in einer Zeit, in der sich der Staat rausnimmt, zu bestimmen, wie viele Menschen sich treffen dürfen, wie weit man sich von seinem Haus entfernen und wann man sich im öffentlichen Raum bewegen darf, doch reichlich grotesk. Es gibt aktuell keinen privaten Bereich. In die Grundrechte wird seit Monaten bis in deren Wesensgehalt eingegriffen, sodass es nicht nur hinnehmbar, sondern geradezu erforderlich ist, dass der Gesetzgeber bzw. der Verordnungsgeber behinderte und chronisch kranke Menschen schützt, indem er der Diskriminierung dieser Menschen durch die Privatwirtschaft abseits des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes entgegenwirkt.
Vielen Menschen scheint im Übrigen auch nicht bewusst zu sein, dass häufig insbesondere psychische Leiden dazu führen, dass Menschen keine Maske tolerieren können. Ihnen sieht man ihr Handicap nicht an, aber das heißt nicht, dass es nicht da ist. Menschen, die ihr Kind im Todeskampf ersticken sahen; Frauen, die Missbrauchserfahrungen gemacht haben und die sich durch die Maske an einen Knebel erinnert fühlen; Menschen mit Angststörungen verschiedener Art. Vor diesem Hintergrund lässt es mich in letzter Zeit häufig ratlos zurück, wenn mir geschildert wird, dass Menschen keinen Arzt/Ärztin mehr finden, der/die bereit ist, eine Untersuchung vorzunehmen; auch diejenigen nicht, bei denen man langjährig in Behandlung war. Viele Ärzt*innen haben Angst vor Repressalien. Das ist die traurige Wahrheit, die ein Ergebnis des erbitternden Gegeneinanders von Lockdownbefürworter*innen und Maßnahmenkritiker*innen ist, die beide mit der Maske ein symbolträchtiges[23] Thema gefunden haben. Hierdurch ist viel Leiden entstanden und gerade die Menschen, die besonders auf Schutz angewiesen sind, wurden so schutzlos gestellt. Sicherlich gibt es Ärzt*innen, die zu Unrecht Atteste ausgestellt haben; das ist kein neues Phänomen. Kennen Sie niemanden, der nicht schon einmal zu Unrecht eine Krankschreibung erhielt? Das heißt aber nicht, dass jedes Attest angezweifelt oder gar ein Ermittlungsverfahren gegen den/die ausstellenden Arzt/Ärztin eingeleitet werden darf. Hierfür bedarf es mehr als eines Attestes. Dieses Vorgehen zerstört nicht nur Vertrauen, sondern versetzt Menschen in verzweifelte Situationen. Ziehen sie sich aus dem öffentlichen Leben komplett zurück oder tragen sie eine Maske, die sie krankheitsbedingt nicht (er-)tragen können? Die politischen Entscheidungsträger*innen müssen sich dieser Probleme annehmen. Es ist ihre Verantwortung. Diese Fragen müssen gesamtgesellschaftlich und nicht anhand einzelner Gerichtsverfahren gelöst werden.
Im Übrigen stellen sich diese Fragen auch bald in Bezug auf die mögliche Diskriminierung von Ungeimpften. Die Privatwirtschaft darf nach dem Impfstatus diskriminieren. Mittelbar wird dies bei chronisch kranken Menschen, die sich nicht impfen lassen dürfen, über das Merkmal der „Behinderung“ auch eine grundsätzlich verbotene Diskriminierung darstellen. Dann wird sich allerdings erneut die Frage stellen, ob diese Diskriminierung aber zum Schutze der anderen Menschen geboten ist. Ich befürchte, dass wir dieselben Probleme, die wir jetzt im Hinblick auf die Maskenbefreiung bei behinderten Menschen haben, auch bei ungeimpften behinderten Menschen bekommen könnten. Bei der Maskenfrage haben die politischen Entscheidungsträger*innen bislang versagt; ich hoffe sehr, dass sich das alsbald ändert und Verfahren, wie ich sie aktuell führe, bald nicht mehr geführt werden müssen.
von Jessica Hamed
[1] https://www.allgemeine-zeitung.de/politik/rheinland-pfalz/mertin-lockerungen-verfassungsrechtlich-zwingend-geboten_23165328
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article226153877/Lockdown-Verlaengerung-Viele-haben-mehr-erwartet-als-einen-frischen-Haarschnitt.html
[3] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 08. Februar 2021
– 1 BvR 242/21 -.
[4] VerfGH NRW, Beschluss vom 29.01.2021,19/21.VB-1.
[5] https://verfassungsblog.de/verfassungsbruch-schlimmer-ein-fehler/
[6] https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/verfassung-grundgesetz-corona-gesetz-parlament-bundestag-bverfg-weimar-nationalsozialismus-bund-laender-thiele/?r=rss%20
[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus226352533/Grundrechte-im-Lockdown-Die-riesigen-verfassungsrechtlichen-Zweifel.html
[8] https://www.nzz.ch/international/hat-das-rki-im-kampf-gegen-corona-versagt-ld.1601044
[9] https://www.focus.de/gesundheit/lockdown-und-kollateralschaeden-zahlreiche-seiten-geschwaerzt-wie-kam-es-zur-lockdown-strategie-der-bundesregierung_id_12965163.html
[10] https://www.ckb-anwaelte.de/download/Antrag_JH_DP_teilanonymVerfoeff.pdf[11] https://www.focus.de/gesundheit/news/hohe-zahl-an-doppeldiagnosen-30-prozent-zufaellig-positiv-zahl-der-corona-patienten-in-kliniken-ueberschaetzt_id_12994057.html
[12] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000341JHsn14385-.pdf
[13] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000341JHsn14385-.pdf
[14] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000928JHJH1188-Verwaltungsgericht-Mainz.pdf
[15] http://www.rechtsprechung.niedersachsen.juris.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE210000631&psml=bsndprod.psml&max=true
[16] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000046JHJH1140-Oberverwaltungsgericht_fuer_das_Land_N%20ordrhein-Westfalen.pdf
[17] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000338JHJH1164-Bayerischer-Verwaltungsgerichtshof.pdf
[18] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000098JHJH1159-Verwaltungsgericht_Augsburg.pdf
[19] https://www.ckb-anwaelte.de/download/SS_VG_Augsburg-Beschluss.pdf
[20] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000098JHJH1195-Bayerischer_Verwaltungsgerichtshof.pdf
[21] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000808JHJH1121-AmtsgerichtMainz.pdf; https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000452JHsn14800-.pdf. [22] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000808JHJH1121-AmtsgerichtMainz.pdf.[23] Z.B. https://www.freitag.de/autoren/mopauly/die-maske-ist-totalitaer; https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/die-maske-ist-links