1. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat am 22.02.2021[1] die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Augsburg bestätigt, sodass es dabei blieb, dass die Testpflicht für Grenzpendler*innen und Grenzgänger*innen rechtswidrig gewesen ist. Am 23.02.2021 hat der Freistaat dann das einzig Richtige gemacht und die von uns beanstandete Testpflicht für alle Grenzpendler*innen und Grenzgänger*innen Bayerns – andernfalls hätte der Beschluss nur für unsere Mandanten Wirkung entfaltet – aufgehoben.[2] Hiernach war auch das am Verwaltungsgericht München[3] anhängige Verfahrens eines bayerischen Grenzpendlers, der in die Schweiz pendelt, erledigt. Der Freistaat hat seine Niederlage eingestanden und sich bereit erklärt, die Kosten für beide Eilverfahren und beide Hauptsacheverfahren unserer Mandanten zu übernehmen.
2. Nach unserem abschließenden Schriftsatz in unserem Verfahren in Rheinland-Pfalz – dort hatten wir relativ umfassend die 4., 6. und 7. CoBeLVO angegriffen[4] – vom 22.02.2021 entsprach das Verwaltungsgericht Mainz erfreulicherweise unserem Antrag auf Terminierung und hat die mündliche Verhandlung für den 29.04.2021 angesetzt. In unserem Schriftsatz führten wir u.a. aus[5]:
„Es wurde ferner ausführlich dargelegt, dass der Beklagte das Übermaßverbot verletzt hat. Insbesondere mit den umfassenden Kontaktbeschränkungen griff der Beklagte – und greift er immer noch – in einer derart erheblichen Weise in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein, dass die rechtliche Frage aufzuwerfen ist, ob damit nicht sogar der unantastbare Kern des Grundrechts getroffen ist. Schuldig geblieben ist der Beklagte – und diesseits besteht kein Anlass zur Hoffnung, dass er dies nachholen wird – auch eine Risikoabwägung im Hinblick auf die zu erwartenden und eingetretenen sog. „Kollateralschäden“.
Nachdem der Beklagte diese vollständig ausblendet und für sich in Anspruch zu nehmen scheint, eine Art „Lebensretter“ zu sein, muss dieser Verblendung bedauerlicherweise – in der gebotenen Kürze, da der herablassende und polemische Ton der Beklagten nahelegt, dass er nicht einmal in Erwägung zieht, möglicherweise Fehler begangen zu haben – entgegengetreten werden. [es folgten diesseits Vergleiche zwischen Schweden und Deutschland] […]
Nachdem nicht davon auszugehen ist, dass doch noch umfassende Unterlagen im Wege der beantragten Akteneinsicht vorgelegt werden und zudem auch kein Mehrwert in den zu erheblichen Anteilen süffisanten/beleidigenden/sarkastischen Erwiderungen des Beklagten im Hinblick auf die berechtigten Interessen des Klägers zu erkennen ist, wird nunmehr beantragt,
dem Beklagten keine weitere Möglichkeit zur Erwiderung zu geben sowie
einen Termin zur mündlichen Hauptverhandlung zu bestimmen, der spätestens im April 2021 stattfindet.
Unter Berücksichtigung der Ausführungen der Gegenseite, wonach ein verwaltungsgerichtliches Verfahren kein wissenschaftliches Journal sei (S. 5 des Schriftsatzes vom 29.01.2020), ist zu konstatieren, dass die Prozessbevollmächtigten damit ebenso wie der von ihnen vertretene Beklagte zeigen, dass sie den Sachverhalt in seiner Gänze, in seinen Zusammenhängen und in den ihm immanenten Wechselwirkungen nicht einmal ansatzweise durchdrungen haben, sowie – was fast noch tragischer ist – hieran auch kein Interesse zu bestehen scheint.“
3. Auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel zu unserem Eilantrag auf Schulöffnung (ab Klasse 7)[6] warten wir bedauerlicherweise immer noch. Inzwischen war die Verordnung verlängert worden – keine Schule bis zu den Osterferien! – sodass wir unseren Antrag umstellen mussten. In unserem Schriftsatz führten wir u. a. aus[7]:
„Während Baumärkte, Buchhandlungen, Gärtnereien und sämtliche Museen, Schlösser usw. wieder öffnen, sowie Dienstleistungen, die der Körperpflege zuzuordnen sind, erbracht werden dürfen, bleiben die Türen zu den Bildungsstätten weiterhin weitestgehend geschlossen. Das kann man – zurückhaltend formuliert – nur mit einem fassungslosen Kopfschütteln kommentieren.
Von der vollmundigen Ansage des Kanzleramtschefs Helge Braun am 14.12.2020:
„Das haben wir immer gesagt. Das ist [Schulen und Kitas] das Letzte, was wir schließen, und das Erste, was wir öffnen“
ist nichts übriggeblieben.
Hoher Senat, geben Sie der Antragstellerin und allen Schüler*innen in Hessen so schnell wie möglich ihr Recht auf Bildung und damit einhergehend ihr Recht auf ein gesundes Heranwachsen zurück. Sie sind die am wenigsten Gefährdeten und ihnen verlangt der Antragsgegner am meisten ab. Das ist der Inbegriff von Unverhältnismäßigkeit.“
4. „Wer negativ ist, soll eine Bescheinigung erhalten und darf an dem Tag beispielsweise shoppen gehen.“[8]
So stellt sich nicht nur Karl Lauterbach die Lösung vor, sondern auch die Stadt Erfurt griff diese Idee auf. Der Plan des „Erfurter Experiments“: In der Innenstadt sollen vier oder fünf Teststrecken aufgebaut werden. Wer frei von Corona ist, soll ein Bändchen bekommen und kann dann ungehindert durch die Geschäfte bummeln, so berichtete der mdr am 04.03.2021.[9]
Lauterbach und der Erfurter Oberbürgermeister Bausewein – ebenso wie die Entscheidungsträger*innen der „Bund-Länder-Konferenz“ – verkennen, dass „Schnell- und Selbsttests“ ungezielt eingesetzt kein adäquates Mittel der Bekämpfung des Infektionsgeschehens darstellen. Vielmehr sind sie das gerade Gegenteil: Das ungezielte Testen gesunder – mit den Worten der Bund-Länder-Konferenz: asymptomatischer[10] – Menschen bringt zahlreiche Probleme mit sich.
So rät das Robert Koch-Institut (RKI) zu Recht von anlasslosem Testen ausdrücklich ab[11]:
„Von der Testung von Personen, die nicht Teil der Nationalen Teststrategie sind, wird ausdrücklich abgeraten, da Testen ohne begründeten Verdacht das Risiko falsch-positiver Ergebnisse erhöht und die vorhandene Testkapazität belastet. Testen ohne Anlass führt zu einem falschen Sicherheitsgefühl. Denn auch ein negatives Testergebnis ist nur eine Momentaufnahme und entbindet nicht von Hygiene- und Schutzmaßnahmen (Stichwort AHA+L-Formel).
Daher gilt, „Testen, Testen, Testen – aber gezielt!““
Das RKI illustriert auch, welche Auswirkungen ein anlassloses Massentesten mit Antigen-Schnelltests bei einer niedrigen Inzidenz hat:
Bei einer 7-Tage-Inzidenz von 50/100.000 wäre auf 10.000 Antigen-Schnelltests mit einem falsch negativen Ergebnis und 200 falsch positiven Ergebnisse zu rechnen. Letztere im Übrigen mit allen damit einhergehenden (rechtlichen) Einschränkungen. Sofortige Quarantäne bis ein negativer PCR-Test – dem jüngst in einem Artikel der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ der weit verbreitete Status als angeblicher Goldstandard für das Screening nach ansteckenden Personen (nur diese sind für das Infektionsgeschehen relevant) abgesprochen wurde[12] – vorliegt, Information der Kontaktpersonen (ebenfalls Quarantäne), Angst usw.
D.h. bei einer derartig niedrigen Inzidenz bzw. Prävalenz liegt die Wahrscheinlichkeit, dass man korrekt als positiv erkannt wurde, lediglich bei 2%. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98% ist ein positives Testergebnis also nicht richtig.
Die Falsch-Positiv-Rate liegt bei Antigen-Schnelltests laut RKI – in Übereinstimmung mit den Herstellerangaben[13] (wobei deren Schätzungen auf kontrollierten Bedingungen, die es im „echten Leben“ nicht gibt, beruhen dürften) – bei 2 %[14]; laut einer Studie der österreichischen Gesundheitsbehörde AGES liegt sie bei Schnelltests bei Nasenabstrichen sogar bei 4,3 %[15]. D. h. hiernach erhält man auf 100 Testungen mehr als 4 falsch-positive Ergebnisse. Würde man nun in Rheinland-Pfalz alle knapp 140.000 Grundschüler*innen wöchentlich testen, erhielte man wöchentlich 6.020 falsch-positive Ergebnisse – erneut mit allem, was dazugehört: Isolation des betreffenden Kindes – und in den meisten Fällen aller Kontaktpersonen[16]! – und Angst bis man durch das negative Ergebnis eines PCR-Tests erlöst wird.
Würde man bei einer 7-Tage-Inzidenz von 50 mittels einer wöchentlichen Massentestung 100.000 Personen testen, würde das Folgende passieren:
Der Test würde 50-mal auf tatsächlich infizierte Personen und 99.950-mal auf in Wirklichkeit nicht infizierte Personen angewendet werden. Geht man mit dem RKI von einer Entdeckungswahrscheinlichkeit der infizierten Personen von 80 Prozent aus[17], wären 40 echt-positive Testergebnisse darunter. Geht man von einer Falsch-Positiven-Rate bei Schnelltests von 2 % aus, erhielte man 1999 falsch-positive Testergebnisse, bei der Annahme von 4,3 % wären es 4298 falsch-positive.
Die Wahrscheinlichkeit, bei einem erhaltenen positiven Testergebnis tatsächlich infiziert zu sein, beträgt demnach: 40 (echt-positive Testergebnisse) geteilt durch 4338 (insgesamt erhaltene positive Testergebnisse) = 0,009 – also nur 0,9 Prozent, bzw. 0,02 also nur 2 Prozent.
Anders ausgedrückt: 99,1 % bzw. 98 % der positiv Getesteten würden zu Unrecht in Angst und Schrecken – und in Quarantäne! – versetzt werden.
In Bezug auf angedachte Massentestungen von Kindern weise ich vor diesem Hintergrund auf die gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene vom 28.02.2021 hin. Dort heißt es u. a.[18]:
„Ausgehend von allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen der Screening- und Infektionsdiagnostik erscheint es angesichts fehlender Daten zur Validität von Antigenschnelltests gerade bei asymptomatischen Kindern zum jetzigen Zeitpunkt weder gerechtfertigt noch angemessen, diese Tests flächendeckend in Schulen und KiTas einzusetzen. Es ist zu erwarten, dass die Zahl falsch negativer und falsch positiver Ergebnisse inakzeptabel hoch sein und weit mehr Schaden als Nutzen mit sich bringen wird. Hinzu kommt das Potenzial großer präanalytischer Fehler in der Probenentnahme.
Unterschätzt werden die negativen psychologischen Auswirkungen repetitiver Testungen, insbesondere junger Kinder, die entsprechende Konsequenzen wie Quarantäne der eigenen Person oder der Sozialgemeinschaft nach sich ziehen, nicht zuletzt wenn sie möglicherweise aufgrund der invaliden Testmethode wieder aufgehoben werden müssen. Weiterhin besteht die erhebliche Gefahr, dass Testergebnisse negativen Einfluss nehmen werden auf die konsequente Umsetzung der bewährten Hygieneregeln. Dies hat angesichts einer erwartungsgemäß hohen Rate falsch negativer Testergebnisse besonders gravierende Auswirkungen.
Dies ist umso bedenkenswerter, als bis heute nicht gezeigt ist, dass Infektionsausbrüche in Schulen, die von infizierten Schülern ausgehen, tatsächlich relevant als Motor der Pandemieentwicklung wirken. Das RKI hat diese Einschätzung kürzlich in seiner Stellungnahme bestätigt.“
In diesem Zusammenhang muss auch kritisiert werden, dass immer noch an den – letztlich völlig willkürlichen – Inzidenzwerten als einziger Parameter zur Messung des Infektionsgeschehens festgehalten wird. Boris Palmer ist zuzustimmen, wenn er sagt[19]:
„Ich halte die Inzidenz nicht für den richtigen Maßstab. Die war immer schon falsch […].“
Wir sollten deswegen weg von diesem Maßstab und hin zu der Frage: Sind die Kliniken ausgelastet oder sind die noch in einem grünen Bereich? Wie viele schwere Erkrankungen haben wir? […]“
Eine Forderung, die Professor Matthias Schrappe und seine Autorengruppe seit Monaten artikulieren[20] und worauf auch wir ständig hinweisen. [21]
Aus den vorgenannten Gründen ist die „Öffnungsstrategie“ von Bund und Länder nicht überzeugend und wird mutmaßlich zu Chaos führen – wie etwa in Nürnberg als die Schulen dort beim Überschreiten der Inzidenz auf knapp über 100 von heute auf morgen wieder schlossen[22]. Zwar ist die aktuelle „Notbremse“ etwas durchdachter, da zumindest Schließungen über Nacht vermieden werden, aber gleichwohl bestehen erhebliche Unsicherheiten, wann wo was erlaubt ist.
In Rheinland-Pfalz darf der Einzelhandel aktuell seit dem 08.03.2021 wieder öffnen[23], da die landesweite Inzidenz unter 50 war, seit gestern liegt sie jedoch bei 50,7.[24] Bei einem Ansteigen der landesweiten Inzidenz über 50 für die Dauer von drei Tagen müssen die Geschäfte laut Landesregierung allerdings in den Kommunen, die ebenfalls über 50 liegen, wieder schließen bzw. dürfen nur noch „Termin-Shopping“ anbieten[25]. Damit droht erneut die Schließung zahlreicher Geschäfte unmittelbar nach den Landtagswahlen. Ob der Plan allerdings umgesetzt wird, darf angesichts der jüngsten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes, auf die gleich noch eingegangen wird, bezweifelt werden.
Das Festhalten an niedrigen Inzidenzwerten bei gleichzeitiger extremer Ausweitung von Testungen ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Wer mehr testet, findet mehr – insoweit muss eine geänderte bzw. massiv ausgeweitete Teststrategie zumindest Auswirkungen auf die – ohnehin untauglichen – Inzidenzgrenzen haben. Diese müssen entsprechend erhöht werden.
Abschließend darf auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass das RKI das Infektionsrisiko im Einzelhandel am 18.02.2021 als niedrig eingeschätzt hat[26] – dort zu testen ergibt somit am allerwenigsten Sinn: Mit Schriftsatz vom 22.02.2021 haben wir gegen ein Lebensmittelgeschäft auf Entschädigung geklagt, da in diesem – obwohl es Wochen zuvor noch ausdrücklich das ärztliche Attest unseres behinderten Mandanten anerkannt hat – unserem Mandanten der Zutritt zum Geschäft verwehrt wurde.[27] Erfreulicherweise hat das Gericht bereits für Mai 2021 terminiert.
6. Leider geraten die Auswirkungen der restriktiven Anti-Corona-Maßnahmen auf die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft – wie z. B. auf Geflüchtete, sozial Schwache, Menschen mit Behinderung, Kinder usw. – aus dem Blick. Darüber und vieles mehr sprach ich am 21.02.2021 mit Dr. Michael Maier, dem Herausgeber der Berliner Zeitung.[28] U.a. äußerte ich mich wie folgt:
Ich vertrete zum Beispiel Kinder und Jugendliche, Behinderte und chronisch Kranke, alte Menschen, Geflüchtete und Menschen in sozial prekären Situationen. Dazu gehören auch Anfragen von Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II. Diese Menschen leben auf beengtem Wohnraum, eine verhängte Quarantäne beispielsweise ist katastrophal. Sie sind in einer völlig anderen Situation als eine Familie mit zwei Kindern in einem Einfamilienhaus mit Garten. […]
Wir haben das bereits zu Beginn der Pandemie gesehen, als es plötzlich Ressentiments gegen Menschen mit asiatischem Aussehen gab. Durch die Abstandsregeln haben wir jetzt das Gefühl, dass jeder, der auf uns zukommt, ein potenziell todbringender Virusträger ist. Die Stigmatisierung aufgrund von Vorurteilen nimmt zu. Zugleich schotten wir uns immer mehr ab. Das wird etwas mit der Gesellschaft machen.“
7. Abschließend noch der Hinweis auf gleich vier erfreuliche Entscheidungen:
Das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes kippte mit Beschluss vom 09.03.2021[29] das eingeschränkte Öffnungsverbot für den allgemeinen Einzelhandel („Terminshopping“) und legte den Finger in die Wunde: Es führte die sinkenden Zahlen der ITS-Belastung an und sprach damit richtigerweise auch die Frage an, ob der Schutz vor Überlastung des Gesundheitssystems nach wie vor das (primäre) Ziel der Maßnahmen sei. Ferner thematisierte es die Infektionsherde und stellte fest, dass der Einzelhandel laut dem RKI nicht dazu gehört (vgl. oben). Es erkannte ferner die Abhängigkeit der Inzidenzen von der Anzahl der Testungen.
Das Verwaltungsgericht Berlin stellte in mehreren Beschlüssen vom 10.03.2021 fest, dass der vollständige Ausschluss einzelner Klassenstufen von der Präsenzschulung im Wechselmodell rechtswidrig ist.[30] Damit dürfen nunmehr auch die Kläger*innen (7. und 9. Klasse) – aber nur die, da es in Berlin keine abstrakte Normenkontrolle gibt und die Entscheidung nur für sie gilt –, wieder in die Schule. Ich würde erwarten, dass Berlin – so die Stadt keine Beschwerde, die keine aufschiebende Wirkung hat, einlegt – den Wechselunterricht nunmehr allen Klassenstufen ermöglicht, andernfalls müssten alle Schüler*innen einzeln klagen.
Das Amtsgericht Ludwigsburg hat am 29.01.2021 einen Betroffenen, der sich angeblich am 20.05.2020 trotz eines Aufenthaltsverbots mit mehr als einer weiteren Person, die nicht zu den Angehörigen seines Haustands gehört, aufgehalten (nämlich zu dritt) und damit gegen § 9 Nr. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 S. 1 CoronaVO BW in der Fassung vom 09.05.2020 verstoßen haben soll, freigesprochen und festgestellt, dass § 3 CoronaVOBW verfassungswidrig ist. Die Entscheidung ist seit dem 09.02.2021 rechtskräftig. Die Begründung ist lesenswert und überzeugend.
Das Gericht stellte – zu Recht – fest, dass die §§ 28, 32 IfSG schon keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für die weitgehenden Eingriffe im Bereich der Kontaktbeschränkung darstellen und dass im Übrigen gegen den Parlamentsvorbehalt verstoßen wurde. In seiner 14-seitigen Begründung führte es u. a. aus[31]:
„Mit den Grundsätzen der Gefahrenabwehr (s.o.) hat dies jedoch nichts mehr gemein. Gefahrenprognose und Adressatenauswahl werden derart pauschaliert, dass die Inanspruchnahme eines konkreten Störers zur Bekämpfung einer konkreten Infektionsgefahr an einem abgrenzbaren Ort gänzlich zu Gunsten einer allgemeingültigen und vollkommen abstrakten Einschätzung aufgegeben werden (so auch AG Dortmund, Urteil vom 2. November 2020 – 733 OWi 127 Js 75/20 – 64/20 – juris). § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG wird hierdurch zu einer „Ermächtigung für alles und jedes“ (kritisch hierzu Volkmann, NJW 20, 3153 ff. (3156)).
[…]Ohnehin verstößt die Regelung gegen den Parlamentsvorbehalt. Für zeitlich, räumlich und vom Adressatenkreis her eng limitierte Maßnahmen konkreter Gefahrenabwehr ist die hier in Rede stehende generalklauselartige Eingriffsermächtigung der §§ 32, 28 Abs. 1 S. 1 IfSG sicherlich ein flexibles und adäquates Instrument – wird jedoch das gesellschaftliche Leben in grundrechtssensibelsten Bereichen im Ganzen wie hier durch die CoronaVO auf nicht vorhersehbare Dauer beschränkt, bedarf es des förmlichen Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung.“
Die völlige Entgrenzung des Tatbestands und den Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt haben wir ebenfalls bereits in unserem ersten Eilantrag beim VGH Kassel vom 30.03.2020 – erfolglos – gerügt[32]:
„Insgesamt können sich die hier angegriffenen Bestimmungen nicht auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG stützen. Diese ermächtigt die Behörden – oder wie hier in Anspruch genommen: die Landesregierungen – allgemein und ohne weitere sachliche Eingrenzung dazu, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen. Obwohl dem Merkmal der Notwendigkeit eine eingrenzende Funktion zukommen kann, ist diese nicht hinreichend bestimmt durch den hierzu berufenen Parlamentsgesetzgeber normiert worden. Dies gilt jedenfalls für die hier in Rede stehenden Vorschriften, denn bei derart einschneidenden Maßnahmen, die eine Vielzahl von Grundrechten einer unabsehbaren Vielzahl von Grundrechtsträger*innen betrifft, obliegt es dem Parlamentsgesetzgeber selbst die entsprechenden Voraussetzungen und die hiernach vorgesehenen Maßnahmen in sachlicher und zeitlicher Reichweite und Begrenzung zu bestimmen. Jedenfalls gilt dies für besonders grundrechtsintensive und -erhebliche Eingriffe, die wie hier eine unabsehbare Vielzahl von Grundrechtsträger*innen treffen.“
Weiter stellte das Amtsgericht fest:
„Das Verhältnis der einzelnen Grundrechte zueinander stand immer schon im lebhaften Diskurs und auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist kein „Supergrundrecht“, sondern gem. Art. 2 Abs. 2 GG durch Gesetz einschränkbar. Gesundheit und Leben reihen sich in die Reihe von Gewährleistungen ein, die das Grundgesetz so gut als möglich zu schützen bemüht ist, in einem ständigen, diskutablen und revidierbaren Prozess der Zuordnung, Abgrenzung, Hervorhebung und Zurücksetzung (zum Ganzen Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 20, S. 861 ff. (864)). Diesen Anforderungen kann und darf durch eine Rechtsverordnung der Exekutive denknotwendig nicht Genüge getan werden. Aufgabe der Exekutive ist die verhältnismäßige Einzelfallentscheidung, nachdem der generell-abstrakte Grundrechtskonflikt bereits durch das Gesetz bewältigt worden ist – nicht die originäre Entscheidung darüber, welche Grundrechte zurückstehen und welche Vorrang haben. Dies ist dem Gesetzgebungsprozess immanent, in dem insbesondere auch die Opposition zu Wort kommt (“erhebliche Zweifel“ an der Erfüllung der Anforderungen des Parlamentsvorbehalts hat auch der BayVGH, Beschl. v. 29.10.20, a.a.O., sowie der VGH Baden-Württemberg (“fraglich“), Beschl. v. 11.11.20 – 1 S 3378/20, Rn. 27 – juris; klar verneinend AG Dortmund a.a.O, wohl ebenso AG Reutlingen, Beschl. v. 9.12.20, 4 OWi 23 Js 16246/20, abhängigmachend vom Zeitmoment Sächsisches OVG, Beschl. v. 20.11.20 – 3 B 356/20 – juris; wohl einhellig im Schrifttum, BayVGH a.a.O. Rn. 35 m.w.N.).“
Es beschäftigte sich ferner mit der Frage, ob ausnahmsweise andere Maßstäbe gelten, und verwarf das – zu Recht – mit Hinweis darauf, dass zum einen dem Gesetzgeber das Szenario eines pandemischen Geschehens bekannt war[33] und er zum anderen zum Teil weitreichende Gesetzesänderungen vorgenommen hatte.
Auch hierauf verwiesen wir bereits am 30.03.2020:
„Im Übrigen zeigen die aktuellen gesetzgeberischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Krise und dem IfSG, dass ein kurzfristiges und rasches Handeln (innerhalb einer Woche) möglich ist. Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite verschiedene Vorschriften im IfSG geändert.“
Das Gericht sah auch das Bestimmtheitsgebot verletzt und führte aus:
„Die CoronaVO wurde seit dem Ersterlass der Verordnung vom 16.3.2020 bis zum Erlass der Nachfolgeverordnung vom 9.5.2020 allein acht Mal und das überwiegend im nicht einmal wöchentlichen Rhythmus (16.3., 17.3., 20.3., 22.3., 28.3., 9.4., 17.4., 23.4., 2.5.2020) und teils gravierend geändert. Besagte Nachfolgeverordnung vom 9.5.2020 wurde ihrerseits vier Mal geändert (16.5., 26.5., 9.6., 16.6.2020), bevor die CoronaVO vom 23.6.20 erlassen wurde. Diese wurde bis zum Erlass der CoronaVO vom 30.11.20 ebenfalls sechs Mal geändert (28.7., 22.9., 6.10., 9.10.,18.10., 1.11.2020). Auch die CoronaVO vom 30.11.20 befindet sich Stand heute schon in ihrer vierten Fassung (Änderungen vom 11.12.20, 15.12.20, 8.1.21, 13.2.21). Ausführungen zur Verlässlichkeit des Rechts erübrigen sich vor diesem Hintergrund, zumal die Änderungen teils gravierender Natur waren (Öffnung und Schließung verschiedenster Geschäfte, der Schulen, Aufenthaltsverbote, Ausgangssperren, Maskenpflichten, um nur einige Gebiete zu nennen). Wohl aus diesem Grund war nicht nur seitens der Polizeigewerkschaft, sondern auch seitens der geladenen Zeugen – im vorliegenden Fall eines Beamten des Polizeireviers Ludwigsburg – zu hören, dass teilweise nicht genau bekannt war, was zum jeweiligen Verstoßzeitpunkt erlaubt war und was verboten (DPolG-Landeschef: “Ich gehe davon aus, dass in der Tat viele Polizistinnen und Polizisten damit Probleme haben und enorme Kraft und Zeit aufwenden, um immer die wichtigsten Regeln zu kennen.“ Es sei frustrierend, wenn […] der Durchblick bei den Vorschriften teils fehle. Vgl. zum Interview und der Thematik unübersichtlicher Regeländerungen den Bericht unter https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/polizei-bw-corona-100.html, zuletzt aufgerufen am 23.2.21).
Vom Bürger kann jedoch keine umfassendere Rechtskenntnis verlangt werden als von den das Recht durchsetzenden Behörden. Festzustellen ist, dass auch vor dem Hintergrund dieses zeitlichen Aspekts des Bestimmtheitsgebots die CoronaVO keinen Bestand haben kann.“
In der vorgenannten Entscheidung wird auch auf den Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts Reutlingen vom 09.12.2020, der ebenfalls lesenswert ist, verwiesen. Dort ist u. a. zu lesen[34]:
„Voraussetzung für ein Tätigwerden der zuständigen Behörde nach den geltenden §§ 28 ff. IfSG ist – wie im Gefahrenabwehrrecht im engeren Sinne üblich – eine konkrete Gefahr, die dann in einem konkreten Einzelfall punktuell bekämpft wird. Notwendigerweise muss ein individueller Bezug zwischen Gefahrenlage und Adressaten der Maßnahme bestehen. Dieser konkret-individuelle Bezug geht verloren, wenn eine Epidemie flächendeckend bekämpft wird und beispielsweise Gemeinschaftseinrichtungen geschlossen werden, ohne dass vor Ort ein Krankheitsausbruch aufgetreten ist, oder wenn für Reiserückkehrer aus sogenannten Risikogebieten pauschal eine Quarantänepflicht geregelt wird. In diesen Fällen werden die vorhandenen Vorschriften überdehnt, weil keine konkrete Gefahr vorliegt, die entweder einer individuellen Person zugerechnet werden kann oder die durch die Inanspruchnahme eines Nichtstörers abgewehrt werden soll (etwa indem einem Gesunden verboten wird, einen Kranken aufzusuchen, vgl. BT-Drs. 8/2468, S. 27). Die Maßnahmen reagieren vielmehr auf ein diffuses Infektionsgeschehen, das nicht mehr auf einzelne gefährliche Verhaltensweisen zurückgeführt werden kann. Wenn in der Folge die Allgemeinheit flächendeckend adressiert wird, wie dies während der Corona-Pandemie geschieht, handelt es sich nicht mehr um Gefahrenabwehr im engeren Sinne, sondern um Risikovorsorge.“
Das Amtsgericht Reutlingen hat damit zutreffend festgestellt, dass die Gefahrenabwehr im klassischen Sinne von dem Vorsorgeprinzip – für das andere verfassungsrechtliche Maßstäbe gelten – abgelöst wurde. Dem dürfte auch die Bundeskanzlerin zustimmen, so äußerte sie am 19.01.2021[35]:
„Das Vorsorgeprinzip hat für uns Vorrang.“
Es zeigt sich, dass sich in der Rechtsprechung – endlich – etwas tut. Es besteht insoweit die begründete Hoffnung auf Genesung des Rechtsstaats. Besser spät als nie.
Jessica Hamed
Rechtsanwältin
[1] https://www.ckb-anwaelte.de/download/Ss_VGH.pdf
[2] https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2021/02/av-testnachweis_konsolidierte-lesfassung_2021_02_23.pdf; https://www.sueddeutsche.de/bayern/nach-gerichtsbeschluss-testpflicht-fuer-pendler-faellt-stellenweise-weg-1.5216912;
[3] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000148JHJH1180_Verwaltungsgericht-Muenchen_1.pdf
[4] https://www.ckb-anwaelte.de/aktuelle-corona-verfahren/ (vgl. dort unter Rheinland-Pfalz)
[5] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000365JHJH1223-Verwaltungsgericht-Mainz.pdf
[6] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000115JHJH1196-Hessischer_Verwaltungsgerichtshof.pdf
[7] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2021000115JHJH1222-Hessischer-Verwaltungsgerichtshof.pdf
[8] https://www.hna.de/politik/corona-karl-lauterbach-deutschland-coronavirus-schnelltests-lockdown-lockerungen-kassel-news-90220573.html
[9] https://www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/erfurt/corona-lockdown-einzelhandel-oeffnung-innenstadt-schnelltest-100.html; auch Tübingen setzt darauf, wenn auch in abgeschwächter Form für „Einkaufstourist*innen“ aus Gebieten mit einer Inzidenz über 50: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.ankuendigung-von-boris-palmer-tuebingen-fuehrt-schnelltestpflicht-fuer-einkaufstouristen-ein.6bce71fe-1136-468b-bc7a-96819f99f936.html
[10] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1872054/66dba48b5b63d8817615d11edaaed849/2021-03-03-mpk-data.pdf?download=1
[11] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/Nat-Teststrat.html
[12] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00425-6/fulltext; auch wir weisen auf die Probleme des PCR-Tests seit Monaten hin, z.B.: https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000931JHJH1093-Oberverwaltungsgericht_Land_Nordrhein-Westfalen_2.pdf
[13] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-selbsttests-schnelltests-sicher-100.html
[14] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Infografik_Antigentest_Tab.html
0[15] https://www.ages.at/service/service-presse/pressemeldungen/evaluierung-von-sars-cov-2-antigen-schnelltests-aus-anterioren-nasenabstrichen-im-vergleich-zu-pcr-an-gurgelloesungen-oder-nasopharyngealabstrichen/
[16] So zumindest in RLP vorgesehen: https://corona.rlp.de/fileadmin/rlp-stk/pdf-Dateien/Corona/15._CoBeLVO/AbsonderungVO.pdf
[17] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Infografik_Antigentest_Tab.html
[18] https://dgpi.de/teststrategien-zur-covid-diagnostik-in-schulen-stand-28-02-2021/
[19] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus227572631/Boris-Palmer-im-WELT-Interview-Weg-vom-Inzidenz-Massstab.html
[20] Z.B. https://schrappe.com/ms2/index_htm_files/Thesenpap6_201122_endfass.pdf
[21] Z.B. https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000931JHJH1073-Oberverwaltungsgericht-LandNordrhein-Westfalen.pdf
[22] https://www.br.de/nachrichten/bayern/nuernberg-gesundheitsamt-riet-zur-schulschliessung,SPqLaPj
[23] https://corona.rlp.de/de/aktuelles/detail/news/News/detail/einzelhandel-in-rheinland-pfalz-oeffnet-am-montag-niedrige-tagesinzidenzen-erlauben-vorsichtige-loc-1/
[24] https://lua.rlp.de/de/presse/detail/news/News/detail/coronavirus-sars-cov-2-aktuelle-fallzahlen-fuer-rheinland-pfalz/
[25] https://corona.rlp.de/de/aktuelles/detail/news/News/detail/einzelhandel-in-rheinland-pfalz-oeffnet-am-montag-niedrige-tagesinzidenzen-erlauben-vorsichtige-loc-1/
[26] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Downloads/Stufenplan.pdf?__blob=publicationFile
[27] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020001067JHJH1217-Amtsgericht%20Friedberg_(Hessen).pdf
[28] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/anwaeltin-es-ist-unglaublich-was-wir-da-erleben-li.141093
[29] https://www.saarland.de/ovg/DE/institution/aktuelle-meldungen/spruchpraxis/downloads/1_dl_spruchpraxis-2b58-21.pdf?__blob=publicationFile&v=2
[30] https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1062949.php
[31] AG Ludwigsburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – 7 OWi 170 Js 112950/20 –, juris.
[32] https://www.ckb-anwaelte.de/download/Normenkontrollantrag_Hessischer-Verwaltungsgerichtshof.pdf
[33] https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
[34] AG Reutlingen, Beschluss vom 09. Dezember 2020 – 4 OWi 23 Js 16246/20 –, juris.
[35] https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/bund-laender-beschluss-1841048