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Bundesgerichtshof tritt Beschuldigtenrechte mit Füßen

Über die bemerkenswerte Entscheidung des BGH, einem Beschuldigten trotz mangelnder Sprachkenntnisse und schwerster Verbrechensvorwürfe nicht von Amts wegen einen Pflichtverteidiger beiordnen zu müssen.


Ein Beitrag von Rechtsanwältin Laura Bales

 

In einem gut funktionierenden Rechtsstaat stellt das Recht auf Verteidigung ein essenzielles und unverzichtbares Recht eines Beschuldigten im Strafverfahren dar. Umso wichtiger ist es, dass dieses Recht unabhängig davon gewährleistet wird, ob ein Beschuldigter sich die Hinzuziehung eines Verteidigers finanziell leisten kann oder er überhaupt verteidigt sein möchte.

Aus diesem Grund existiert das Institut der notwendigen Verteidigung, das die Bestellung eines Pflichtverteidigers in gesetzlich normierten Fällen nicht nur als freiwilligen Akt, sondern als zwingend durchzuführende Maßnahme konstatiert.

 

Was bedeutet Pflichtverteidigung? Und wie ist die aktuelle Rechtslage?

Zunächst setzt eine Pflichtverteidigerbestellung voraus, dass überhaupt ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt.
Ein solcher ist u.a. gegeben, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird, dieser sich in Untersuchungshaft befindet oder wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. 

Durch eine Gesetzesänderung im Jahre 2019 wurde der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung vorverlagert. Während nach alter Rechtlage eine solche in der Praxis regelmäßig erst nach Anklageerhebung erfolgte, ist nach neuer Gesetzeslage ein Pflichtverteidiger zwingend und unverzüglich bereits im Ermittlungsverfahren – bspw. vor einer Beschuldigtenvernehmung – zu bestellen, sofern dies von dem Beschuldigten nach entsprechender Belehrung ausdrücklich beantragt wird.

Unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten wird von Amts wegen ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald im Ermittlungsverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei seiner Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann.

 

Bedenkliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jedoch dieses essenzielle Beschuldigtenrecht nun in bedenklicher Weise beschnitten.

Der Entscheidung (Beschluss vom 05.04.2022 – 3 StR 16/22) zugrunde lag der Fall eines seit wenigen Jahren in Deutschland lebenden Syrers, der wegen Beihilfe zum Mord und Kriegsverbrechen, mithin schwerster Delikte, angeklagt war.
Im Ermittlungsverfahren wurde ihm für zwei polizeiliche Vernehmungen zwar – wegen mangelnder Sprachkenntnisse – ein Dolmetscher zur Seite gestellt, jedoch kein Pflichtverteidiger beigeordnet. Einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers stellte der Beschuldigte trotz entsprechender Belehrung nicht. Und auch von Amts wegen veranlasste die Staatsanwaltschaft keine Pflichtverteidigerbestellung.
Verurteilt wurde der Angeklagte schließlich zu einer neunjährigen Freiheitsstrafe.

Im Rahmen der dem Bundesgerichtshof vorliegenden Revision ging es vor allem um die unterbliebene Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren.
Einen Rechtsverstoß sieht der Bundesgerichtshof indes darin nicht. Solange kein Fall der bereits erwähnten Unfähigkeit der Selbstverteidigung vorliege, habe die Pflichtverteidigerbestellung nur auf das ausdrückliche Verlangen des Beschuldigten zu erfolgen.

Die Frage, ob ein Beschuldigter sich selbst nicht verteidigen kann und ihm daher auch ohne Antrag ein Verteidiger zu bestellen ist, richte sich maßgeblich nach der individuellen Schutzbedürftigkeit. Dabei seien auch die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten zu berücksichtigen.
Schutzbedürftig sei ein Beschuldigter insbesondere, wenn dieser sich infolge seines geistigen Zustands nicht selbst verteidigen könne, so die BGH-Richter.

Eine besondere Schutzbedürftigkeit des Syrers hat der Bundesgerichtshof im vorliegenden Fall abgelehnt. Es sei nicht ersichtlich, warum sich dieser nicht selbst und ohne Anwalt hätte verteidigen können.
Fehlende Sprachkenntnisse seien bei der Betrachtung zwar zu berücksichtigen, führten aber nicht per se zu einer Verteidigerbestellung von Amts wegen, da ein Anspruch auf Hinzuziehung eines Dolmetschers bestehe.

Ebenso rechtfertige auch nicht die Schwere der Tatvorwürfe die Annahme, der Beschuldigte sei nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen.

 

Unzulängliche Rechtslage

Es ist die erste Entscheidung des BGH seit der Gesetzesänderung, die sich ausführlich mit der vorliegenden Thematik auseinandersetzt.
Anlass der Gesetzesänderung war die EU-Prozesskostenhilferichtlinie für Verdächtige und beschuldigte Personen im Strafverfahren.
Die EU-Richtlinie sollte die Beschuldigtenrechte gerade stärken und erweitern. Dabei war die Garantie einer frühzeitigen Verteidigung – unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Beschuldigten – das Kernanliegen der Richtlinie.

Die Änderung der Vorschriften der notwendigen Verteidigung war zwar ein Schritt in die richtige Richtung – immerhin wurde der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich vorverlagert. Allerdings ist der Gesetzgeber – wie spätestens jetzt mehr als deutlich wird – auf halbem Wege stehen geblieben.

Nach diesseitigem Dafürhalten werden die Neuregelungen und insbesondere das Antragserfordernis dem Sinn und Zweck des Instituts der notwendigen Verteidigung nicht gerecht.

Dieses soll gerade gewährleisten, dass dem Beschuldigten in den gesetzlich normierten Fällen rechtskundiger Beistand zuteil wird und darüber hinaus ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gegeben ist.
Das System der notwendigen Verteidigung liegt damit im Interesse des Beschuldigten, aber auch im öffentlichen Interesse bzw. im Interesse der Rechtspflege.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als problematisch, die Pflichtverteidigerbestellung von einem Antrag des Beschuldigten abhängig zu machen.
Geradezu charakteristisch für das Institut der notwendigen Verteidigung, das sich wiederum als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips darstellt, ist nämlich, dass auch – oder gerade – diejenigen Zugang zum Recht haben, die dies nicht aus eigener Kraft können oder wollen.

 

Schutzbedürftig? Nein, danke.

Nun mag man einwenden, dass doch die Möglichkeit der Bestellung von Amts wegen bspw. in Fällen der o.g. Unfähigkeit der Selbstverteidigung existiert.
Die Unzulänglichkeit dieser Regelung zeigt jedoch die Entscheidung des BGH auf eindrückliche Art und Weise.
Die Gründe, aus denen sich jemand nicht selbst verteidigen kann, können mannigfaltig sein. Der BGH allerdings scheint der Auffassung zu sein, dass nur wenige davon eine von Amts wegen vorzunehmende Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren legitimieren.

Denn dass ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, dem darüber hinaus aufgrund seiner kurzen Zeit in Deutschland das deutsche Rechtssystem vermutlich nicht in dem Maße bekannt ist wie einem deutschen Beschuldigten und der sich wegen schwerster Tatvorwürfe zu verantworten hat, in den Augen des BGH offensichtlich nicht schutzbedürftig und schutzwürdig genug ist, ist doch äußerst bemerkenswert.

Dass die BGH-Richter noch „on top“ ausführen, dass selbst im Falle einer zu Unrecht unterbliebenen Pflichtverteidigerbestellung vor einer Beschuldigtenvernehmung diese Vernehmung nicht zwingend einem Verwertungsverbot unterfiele, ist das „i-Tüpfelchen“ der Entscheidung.

Ein Verwertungsverbot, so die BGH-Richter, sei nur in den Ausnahmefällen geboten, in denen grundrechtliche Sicherungen durch schwerwiegende oder willkürliche Rechtsverstöße systematisch außer Acht gelassen worden seien.

Diese restriktive Einordnung einer zu Unrecht unterbliebenen Pflichtverteidigerbestellung wiegt im Lichte der hier vorgestellten Entscheidung gleich doppelt schwer.

Selbstverständlich kann im Interesse einer funktionierenden Strafverfolgung nicht jeder (unbeabsichtigte) Rechtsverstoß der Ermittlungsbehörden zu einer zwingenden Unverwertbarkeit der Beschuldigtenaussage führen.

Eine solch enge Auffassung des BGH, die Ausdruck seiner allgemein sehr restriktiven Rechtsprechung im Bereich der Verwertungsverbote ist und bei der im Zweifel die Beschuldigtenrechte gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse den Kürzeren ziehen, mutet zumindest bedenklich an.

 

Konsequenzen

Ob die „beschuldigtenfeindliche“ Situation, die wir im geschilderten Fall nun haben, allein dem Bundesgerichtshof aufgrund seiner sehr restriktiven Auslegung des Gesetzes anzulasten ist oder auch der Gesetzgeber mit in die Verantwortung gezogen werden kann, da er dem Sinn und Zweck der EU-Richtlinie nicht hinreichend Rechnung getragen hat, mag dahinstehen. Fest steht jedenfalls: der Gesetzgeber sollte schnellstmöglich nachbessern.

Denn für einen umfassenden Schutz der Beschuldigtenrechte und eine wirklich effektive Durchsetzung des Rechts auf frühe Verteidigung, sollte der Gesetzgeber möglichst konkrete Vorgaben machen, um sicherzustellen, dass die Erweiterung der Beschuldigtenrechte nicht nur graue Theorie bleibt.

Diese Aufgabe darf nicht (nur) der Justiz überlassen werden, die sich offensichtlich nicht in der Pflicht sieht, die entsprechenden Rechtsnormen im Sinne eines effektiven Beschuldigtenschutzes – wie auch von der EU-Richtlinie intendiert – anzuwenden und auszulegen.

Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang die Ankündigung der aktuellen Regierung im Rahmen ihres Koalitionsvertrags, die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicherzustellen. Im Interesse der Beschuldigten bleibt zu hoffen, dass dies schnellstmöglich umgesetzt wird.

 


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